Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig
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Dieserart die Wirkung der verschollenen Stücke erneuernd, wirkten aber die zeitgenössischen Ereignisse gleichzeitig auch auflockernd auf den ganzen schon als Torso vergrabenen Plan. In einer früheren Vorrede hatte Rolland die Revolution einem Elementarereignis, einem Sturm, einem Gewitter verglichen. Nun hatte er unvermuteterweise ein solches Gewitter selbst im Osten sich zusammenballen und mit elementarischer Wucht bis in unser geistiges Reich heranbrechen gesehen. Blut strömte und strömte bis hin in das Werk, die Zeit selbst lieferte ihm Analogien zu den dichterischen Situationen und historischen Gestalten, und so begann er, sich selber unerwartet, die vom Rückschein all dieser Flammen neu erhellte Zeichnung zu Ende zu führen. Das »Spiel von Tod und Liebe«, das erste Werk dieses neuen Beginnens, gehört rein dramatisch und künstlerisch zum Vollendetsten, was Rolland bisher gelungen In einem einzigen Akt, rasch ansteigend, in fortwährender Erregung drängen sich Schicksale zusammen, in denen der wissende Blick Historisches mit frei Erfundenem als sinnvoll vermengt erkennt. Jérôme de Courvoisier trägt Züge des genialen Chemikers Lavoisier und teilt zugleich die seelische Erhobenheit auch mit dem andern großen Opfer der Revolution, mit Condorcet. Seine Frau erinnert in einem an dessen Gattin und die heldenhafte Geliebte Louvets, Carnot wiederum ist streng historisch gestaltet, ebenso wie die Erzählung des geflüchteten Girondisten. Aber wahrhafter als alle Wahrheit darin ist die unmittelbare seelische Stimmung, das Grauen der geistigen, moralischen Menschen vor dem Blut, das ihre eigenen Ideen gefordert haben, das Grauen vor der niedrigen gemeinen Menschentierheit, die jede Revolution als Sturmläufer benötigt, und die dann immer, berauscht vom Blutdunst, das eigene Ideal hinmordet. Der Schauer unzähligen Gefühls ist darin, der ewige unsterbliche Schauer des jungen Lebens um das eigene Leben, die Unerträglichkeit eines Zustandes, wo der Seele das Wort nicht und kein Leib mehr dem einzelnen Menschen selbst gehört, sondern Leib und Seele dunklen, unsichtbaren Gewalten, – all dieses Dinge, die wir Millionen Menschen in Europa während sieben Jahren bis zur äußersten Erschütterung und Ohnmacht in der Seele gefühlt haben. Und über diesem zeitlichen wölbt sich dann noch groß der ewige Konflikt, der allen Zeiten gehört, der Gegensatz zwischen Liebe und Pflicht, zwischen Dienst und höherer Wahrhaftigkeit; wieder schweben, ebenso wie in den »Wölfen« und im »Danton«, in homerischer Art die Ideen als unsichtbare Mächte anfeuernd und beschwörend über dem niedrigen mörderischen Kampf der Menschen.
Niemals war Rolland bisher präziser, intensiver als Dramatiker als in diesem Spiel. Hier ist alles auf engste, dichteste Formeln gebracht, ein weit vorbereitetes, scheinbar verwirrtes Geschehnis in den ununterbrochenen Ablauf einer heroischen Stunde gedrängt: manchmal wirkt es geradezu wie eine Ballade in seiner dichterischen Knappheit und dem reinen rhythmischen Ablauf einer tragischen Melodie. Auf der Bühne unmittelbar bewährt, wird es hoffentlich seinen und unsern Wunsch stärker geltend machen, nun das ganze große Fresko, das damit schon zur Hälfte vollendet ist, zu Ende zu führen. Seit einem Vierteljahrhundert liegen die Skizzen dazu fertig in des Meisters Hand Und nun, da die neue Zeit unverhofft ihre Farbe geliehen, dürfen wir erwarten, daß die nächsten Jahre diese weitesten und kühnsten seiner Kreise in den Horizont unserer Welt einrunden.
So sind zwei alte längst abgestockte Pläne, zwei seit Jahren unterbrochene Reihen innerhalb Rollands Werk wieder in Aufbau und Erneuerung begriffen. Aber der Unermüdliche, der in einer Arbeit immer nur von der andern ausruht, hat gleichzeitig ein Neues begonnen, den Romanzyklus »L’âme enchantée« (»Verzauberte Seele«), eine Art Pendant zum Johann Christof, um unmittelbar, ohne Kulisse und Ferne uns Sinn und Formen der Zeit zu deuten. Denn der deutsche Musikus Johann Christof ist, rein historisch gesprochen, vor dem Kriege gestorben, und alles, was zehn Jahre hinter uns hegt, gilt bei der ungeheuren Wandlungsfähigkeit unserer Zeit und der gegenwärtigen Generation charakterologisch schon als Vergangenheit. Um gegenwärtig zu wirken, wozu sich Rolland als der »Biologe der Zeit« (wie er sich am liebsten nennt) vor allem berufen fühlt, muß das Problem wie die Gestalt näher herangezogen werden, nicht der Vätergeneration entwachsen, sondern der unseren. Gleichzeitig aber schafft Rolland diesem neuen Zyklus eine neue Polarität durch Spannungen anderer Art. Im »Johann Christof« waren die Männer, Johann Christof und Olivier, die Kämpfenden gewesen, die Frauen nur die Leidenden, die Helfenden, die Verwirrenden, die Beschwichtigenden. Diesmal nun lockt es Rolland, den freien Menschen, der sein Ich, der seine Persönlichkeit, der seinen selbsterworbenen Glauben gegen die Welt, gegen die Zeit, gegen die Menschen mit unerschütterlicher Kraft aufrecht hält, einmal in der sieghaften Gestalt einer Frau darzustellen. Notwendigerweise muß aber der Kampf einer Frau um die Freiheit ein anderer sein als jener des Mannes. Der Mann hat sein Werk zu verteidigen oder seinen Glauben oder seine Überzeugung oder seine Idee; die Frau verteidigt sich selbst, ihr Leben, ihre Seele, ihr Gefühl und vielleicht noch ihr zweites Leben, ihr Kind, gegen unsichtbare zeitliche und seelische Mächte, gegen die Sinnlichkeit, gegen die Sitte, gegen das Gesetz und andererseits wieder gegen die Anarchie, gegen alle die unsichtbaren Schranken, die einer freien Entfaltung inneren Frauentums in der Zivilisation, in der moralischen, in der christlichen Welt gesetzt sind. So enthält das verwandelte Problem selbst wieder ungeahnte Verwandlungsmöglichkeiten, intimer zwar, aber nicht minder gewaltsam und großartig. Und Rolland hat seine innerste Leidenschaft aufgeboten, um hier den Kampf einer einfachen, namenlosen, anonymen Frau um ihre Persönlichkeit als nicht geringer erscheinen zu lassen als jenen des neuen Beethoven um sein Werk und seine Überzeugung.
Von diesem geplanten Werke stellt der erste Band, »Annette und Sylvia«, nur ein lyrisches Präludium dar, ein zärtliches Andante, das manchmal von einem leisen Scherzo unterbrochen wird. Aber schon gewittert in die letzten Szenen dieser breitangelegten Symphonie (wie alle Werke Rollands ist auch dieses nach musikalischen Gesetzen aufgebaut) eine passionierte Erregung herein. Annette, das gut bürgerliche und unberührte Mädchen, erfährt nach dem Tode ihres Vaters, daß er eine uneheliche Tochter Sylvia in kleinen Verhältnissen zurückgelassen hat. Mehr aus einem Instinkt der Neugier, aber doch schon aus der ihr eingeborenen Leidenschaft für Gerechtigkeit, beschließt sie, die Halbschwester aufzusuchen. Damit schon zerstört sie eine erste Schranke, ein unsichtbares Gesetz. In Sylvia lernt sie, die Wohlbehütete, zum erstenmal die Idee zur Freiheit kennen, nicht die edelste Form, aber doch die naturhafte, selbstverständliche der unteren Klassen, wo die Frau frei mit sich schaltet und ohne Hemmungen von außen und innen sich ihrem Geliebten hingibt. Und als sie dann ein junger Mann, den sie liebt, für die gutbürgerliche Ehe fordert, wehrt sich der so aufgereizte Instinkt ihrer Freiheit dagegen, mit dieser Ehe schon eine starre Form des Daseins anzunehmen und ganz in seinem Willen unterzugehen. »Der letzte Wunsch, das innerste Verlangen meines Lebens ist vielleicht nicht vollkommen auszudrücken«, sagt sie ihm, »weil er nicht ganz präzise und allzuweit ist.« Sie verlangt, daß irgendein letzter Teil ihres Daseins ihm nicht Untertan sein dürfe und sich nicht ganz in das Gemeinsame der Ehe lösen müsse. Unwillkürlich muß man bei dieser Forderung an das wundervolle Wort Goethes denken, das er einmal in einem Briefe schreibt: »Mein Herz ist eine offene Stadt, die jeder beschreiten kann, aber irgendwo darin ist eine verschlossene Zitadelle, in die niemand eindringen darf.« Diese Zitadelle, diesen letzten geheimnisvollen Schlupfwinkel will sie in sich bewahren, um der Liebe in einem höheren Sinne offen zu bleiben. Aber der Bräutigam, ganz im Bürgerlichen befangen, mißversteht dieses Verlangen und meint, sie liebe ihn nicht. So löst sich die Verlobung. Aber gerade nachdem sie gelöst ist, zeigt Annette in heroischer Art, daß sie zwar ihre Seele einem Manne, den sie liebt, nicht ganz hingeben kann, wohl aber ihren Körper. Sie gibt sich ihm hin und verläßt ihn dann, der ratlos bleibt, denn es ist die Tragik der Mittelmäßigen, das Große, das Heldische, das Einmalige nicht zu verstehen. Damit ist der kühnste Schritt getan, Annette hat die bürgerliche, die sicherumfriedete Welt verlassen und muß nun allein ihren Weg durchs Leben nehmen, oder vielmehr: noch mehr als allein, denn die Frucht jener Hingabe ist ein Kind, ein uneheliches Kind, mit dem zur Seite sie ihren Kampf aufzunehmen hat.
Von der Tragik dieses Kampfes sagt der nächste Band, »Der Sommer«, schon mehr. Annette ist ausgestoßen aus der Gesellschaft, sie hat ihr Vermögen verloren, sie muß in einem kläglichen aufreibenden Ringen alle Kräfte zusammenfassen, nur um das Kind sich zu bewahren, und jenes andere in sich,