Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig
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Das Manifest der Freiheit des Geistes
Immer wieder aber appelliert der Unerschütterliche, nach allen Enttäuschungen im Irdischen, an die letzte Instanz, an den Geist der Gemeinsamkeit. Am Tage der Unterzeichnung des Friedens veröffentlicht Romain Rolland ein Manifest in der »Humanité«. Er selbst hat es verfaßt, Gesinnungsfreunde aus allen Ländern setzen ihren Namen dazu: es will der erste Grundstein des unsichtbaren Tempels in einer stürzenden Welt werden, das Refugium aller Enttäuschten. Mit gewaltigem Griff faßt Rolland noch einmal die Vergangenheit zusammen und hebt sie der Zukunft warnend entgegen: laut und klar spricht das Wort:
»Uns, Kameraden in der Arbeit am Geiste, trennten seit fünf Jahren Armeen, Zensur, Vorschriften und der Haß kriegführender Völker. Aber heute, da die Schranken zu fallen und die Grenzen sich langsam wieder zu öffnen beginnen, wenden wir Einsamen der Welt uns mit dem bittenden Ruf an Euch, unsere einstige Genossenschaft wieder herzustellen – aber in neuer Form –, sicherer und widerstandsfähiger als früher.
Der Krieg hatte Verwirrung in unsere Reihen getragen. Fast alle Intellektuellen haben ihre Wissenschaft, ihre Kunst und ihr ganzes Denken in den Dienst der kriegführenden Obrigkeit gestellt. Wir klagen niemand an und wollen keinen Vorwurf erheben, zu gut kennen wir die Widerstandslosigkeit des Einzelnen gegenüber der elementaren Kraft von Massenvorstellungen: sie mußten alles hinwegschwemmen, da nichts vorhanden war, an dem man sich hätte halten können. Für die Zukunft jedoch könnten und sollten wir aus dem Geschehenen lernen.
Dazu aber ist es gut, sich an den Zusammenbruch zu erinnern, den die fast restlose Abdankung der Intelligenz in der ganzen Welt verschuldet hat. Die Denker und Dichter beugten sich knechtisch vor dem Götzen des Tages und fügten dadurch zu den Flammen, die Europa an Leib und Seele verbrannten, unauslöschlichen giftigen Haß. Aus den Rüstkammern ihres Wissens und ihrer Phantasie suchten sie alle die alten und auch viele neue Gründe zum Haß, Gründe der Geschichte und Gründe einer angeblichen Wissenschaft und Kunst. Mit Fleiß zerstörten sie diesen Zusammenhang und die Liebe unter den Menschen und machten dadurch auch die Welt der Ideen, deren lebendige Verkörperung sie sein sollten, häßlich, schmutzig und gemein und schufen damit aus ihr – vielleicht ohne es zu wollen – ein Werkzeug der Leidenschaft. Sie haben für selbstsüchtige, politische oder soziale Parteiinteressen gearbeitet, für einen Staat, für ein Vaterland oder für eine Klasse. Und jetzt, da alle Völker, die in diesem Barbarenkampfe gekämpft – Sieger sowohl als Besiegte – in Armut und tiefster uneingestandener Schande ob ihrer Wahnsinnstat verzweifelt und erniedrigt dastehen – jetzt scheint mit den Denkern auch der in den Kampf gezerrte Gedanke zerschlagen.
Auf! Befreien wir den Geist von diesen unreinen Kompromissen, von diesen niederziehenden Ketten, von dieser heimlichen Knechtschaft! Der Geist darf niemandes Diener sein, wir aber müssen dem Geiste dienen, und keinen andern Herrn erkennen wir an. Seine Fackel zu tragen sind wir geboren, um sie wollen wir uns scharen, um sie die irrende Menschheit zu scharen versuchen. Unsere Aufgabe und unsere Pflicht ist es, das unverrückbare Fanal aufzupflanzen und in der stürmenden Nacht auf den ewig ruhenden Polarstern hinzuweisen. Inmitten dieser Orgie von Hochmut und gegenseitiger Verachtung wollen wir nicht wählen noch richten. Frei dienen wir der freien Wahrheit, die, in sich grenzenlos, auch keine äußeren Grenzen kennt, keine Vorurteile der Völker, keine Sonderrechte einer Klasse. Gewiß, wir haben Freude an der Menschheit und Liebe zu ihr! Für sie arbeiten wir, aber für sie als Ganzes. Wir kennen nicht einzelne Völker, sondern nur das Volk, das eine unmittelbare Volk, das leidet und kämpft, fällt und sich wieder erhebt und dabei doch immer vorwärts schreitet auf seinem schweren Wege in Blut und in Schweiß – dieses Volk aller Menschen, die alle, alle unsere Brüder sind. Nur bewußt werden müssen sich die Menschen dieser Bruderschaft; deshalb sollten wir Wissenden hoch über den blinden Kämpfern die Brücke bauen zum Zeichen eines neuen Bundes, im Namen des einen und doch mannigfaltigen ewigen und freien Geistes.«
Hunderte und Aberhunderte haben diese Worte seitdem zu den ihren gemacht, aus allen Ländern haben sich die Besten zu dieser Botschaft bekannt. Die unsichtbare europäische Republik des Geistes inmitten der Völker und Nationen ist errichtet: das Allvaterland. Ihre Grenzen sind jedem offen, der sie zu bewohnen begehrt, sie hat kein Gesetz als das der Brüderlichkeit, keinen anderen Feind als den Haß und den Hochmut der Nationen. Wer ihr unsichtbares Reich zur Heimat nimmt, ist Weltbürger geworden. Erbe, nicht eines einzelnen Volkes, sondern aller Völker, heimisch in allen Sprachen und Ländern, in aller Vergangenheit und aller Zukunft.
Ausklang
Geheimnisvoller Wellenschlag dieses Lebens, immer sich aufhebend in leidenschaftlicher Woge gegen die Zeit, immer niederstürzend in den Abgrund der Enttäuschung, um doch neu sich aufzuschwingen in vervielfachter Gläubigkeit! Wieder – zum wievielten Male! – ist Romain Rolland der große Besiegte der Umwelt. Keine seiner Ideen, keiner seiner Wünsche, seiner Träume hat sich verwirklicht: wieder hat Gewalt recht behalten gegen den Geist, die Menschen gegen die Menschheit.
Aber nie war sein Kampf größer gewesen, nie seine Existenz notwendiger, als in jenen Jahren, denn nur sein Apostolat hat das Evangelium des gekreuzigten Europa gerettet und mit diesem Glauben einen anderen noch: den an den Dichter als den geistigen Führer, den sittlichen Sprecher seiner Nation und aller Nationen. Dieser eine Dichter hat uns vor der unauslöschlichen Schmach bewahrt, daß in unseren Tagen keine einzige Stimme sich wider den Wahnwitz des Mords und des Hasses erhoben hätte: ihm danken wir, daß das heilige Licht der Brüderlichkeit im stärksten Sturme der Geschichte nicht erloschen ist. Die Welt des Geistes kennt nicht den trügerischen Begriff der Zahl, in ihren geheimnisvollen Maßen wiegt der eine gegen alle mehr, als die Vielzahl gegen den einen. Nie glüht eine Idee reiner als in dem einsamen Bekenner, und an dem großen Beispiel dieses Dichters haben wir wieder in dunkelster Stunde erkannt: ein einziger großer Mensch, der menschlich bleibt, rettet immer und für alle den Glauben an die Menschheit.
Nachlese
1919 - 1925
Nichts Erfreulicheres kann dem Biographen einer zeitgenössischen Persönlichkeit widerfahren, als wenn die geschilderte Gestalt das geschriebene Werk durch neue Verwandlung und Entfaltung überholt: denn ist es nicht besser, ein Bildnis veralte und erkalte als der schöpferische Mensch? So müßte auch diese Darstellung heute, sechs Jahre nach ihrem ersten Erscheinen, in einigen Belangen als überholt gelten, und die Verlockung läge nahe, sie anläßlich einer der Neuauflagen bis an die gegenwärtige Stunde heran umzuformen. Aber nicht Trägheit weigert sich in mir gegen diese Versuchung, sondern ich halte den gegenwärtigen Augenblick für eine neuerliche Abrundung noch für verfrüht. Jedes Leben hat eine innere Architektonik, deren verkleinerten Maßstab eine rechtschaffene Biographie in sich eingezeichnet tragen muß: aber der Schwerpunkt muß immer wieder neu gefunden werden, denn nur in bestimmten Zeitwenden, aus einer gewissen Distanz offenbart sich diese unablässig fortgebaute verborgene Form. Entfaltet sich nun ein künstlerisches Leben wie gerade jenes Rollands immer – ich versuchte es in diesem Buche zu zeigen – in weitausholenden zyklischen Kreisen, so erscheint es geboten, vorsorglich abzuwarten, bis diese Kreise ihren Raum