Die großen Western Staffel 4. Diverse Autoren
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Jericho tat so, als hätte er ihr Stocken nicht bemerkt. Er öffnete Shannons Hemd und zog es behutsam aus der Hose.
»Wann hat er die Kugel bekommen, Inez?«
»Vor – vor vier Tagen genau – am Abend vor vier Tagen, eine Stunde vor Mitternacht, Señor Graves. Warum fragen Sie?«
»Es ist wichtig«, sagte David Jericho kurz. »Die Kugel kann kein Organ verletzt haben, sonst lebte er nicht mehr, verstehen Sie? Er hat jetzt hohes Wundfieber oder eine Entzündung im Leib, aber wenn man etwas gegen das Fieber hat und die Entzündung bekämpfen kann, überlebt er. Er ist groß und stark, ein kräftiger Mann, Señorita Inez. Sicherlich muss die Kugel heraus, ganz sicher sogar.«
Er beobachtete sie, sah die jähe Furcht in ihren Augen, und wusste, woher diese Angst kam.
»Sie muss heraus – eine Operation, Señor Graves? Sie meinen, ein Doktor muss ihn operieren?«
»Er muss«, sagte Jericho ernst. »Wollen Sie, dass er stirbt? Diese Kugel kann ich nicht herausholen, das muss ein Arzt tun. Wenn ich genau wüsste, wo das Geschoss sitzt, könnte ich es vielleicht riskieren, doch die Wunde ist schon zu alt, verstehen Sie? Das kann wirklich nur ein Arzt machen.«
»Ein Arzt«, stammelte Inez Ramirez. »Wo ist hier ein Arzt? Wie weit ist es bis zur nächsten Stadt – Sie müssten Mikel doch in eine Stadt bringen, oder?«
»Genau das«, antwortete Jericho bestimmt. »Wenn ich den Wagen herhole und wir ihn in dem transportierten, könnten wir zwei Stunden vor Einbruch der Nacht in Wagon Creek sein. Dort lebt ein alter Arzt, der sich jedoch wie kaum ein anderer auf Wunden versteht. Er war einmal Armeearzt.«
»Wagon Creek, ist das eine große Stadt?«
»Nein, eine kleine«, gab Jericho zurück und machte den Verband wieder fest. »Dort leben keine fünfzig Menschen, aber der Arzt ist da, das allein ist wichtig.«
»Und – und die Stadt – hat sie einen Sheriff?«
»Warum?«, fragte Jericho und stellte sich erstaunt. »Nein, in Wagon Creek gibt es keinen Sheriff oder Marshal. Warum fragen Sie nach einem Sheriff, Inez?«
»Nur so, nur so«, flüsterte sie und sah zu Boden. »Ein Sheriff würde fragen, woher er die Wunde hat, weshalb man auf ihn geschossen hat, oder?«
»Sicher – wenn einer in Wagon Creek wäre«, brummelte Jericho. »Er ist in Mexiko verwundet worden, nehme ich an.«
»Ja, zu Hause. Es war ein Bravado – ein schlechter Mensch, den man in diesem Land sucht. Darum will ich nirgendwohin, wo ein Sheriff ist. Mikel hat gesagt, er will in keine Stadt, er will keine Fragen gestellt bekommen. Das ist eine persönliche Sache zwischen Mikel und diesem Bravado gewesen – ganz persönlich, verstehen Sie, Señor Graves? Ich bin schuld gewesen, oh, dios, ich habe die Schuld, ich allein. Aber ich liebe ihn doch, nur ihn, und ich werde niemals einen anderen Mann lieben, niemals. Oh, mein Gott, wenn Mikel sterben muss, dann töte ich mich auch, ich will nicht mehr leben ohne ihn.«
»Na, na, nun mal langsam, Inez«, sagte Jericho besänftigend, als sie wieder zu schluchzen begann. »Mikel wird schon nicht sterben, wenn er heute noch die Kugel herausgeholt bekommt. Außerdem ist er ein zäher Brocken – und er liebt Sie genauso wie Sie ihn – wirklich?«
»Ja, ja, ich glaube, er liebt mich auch sosehr. Er hat gesagt, er wolle nicht an meinem Unglück schuld sein, er ginge besser fort, ganz weit fort, denn wenn er bliebe, würde er mir nur Unglück bringen. Er wollte nicht, dass ich mit ihm ritt, aber ich bin ihm gefolgt, ich habe gesagt, ich bringe mich um, wenn er mich nicht mitnimmt. Sie hätten ihn ohnehin verfolgt und …«
»So ist das – er wird also verfolgt«, sagte Jericho düster und hielt die Hand noch geschlossen, die er gerade unter der Weste hervorzog. »Deshalb ist er durch den Sturm mit Ihnen geritten und hat die Richtung geändert – die Verfolger damit abschütteln wollen, denn der Sturm muss jede Spur verwischt haben. Da war also ein Bravado, den man in diesem Land sucht – ein Mexikaner, oder war es ein Gringo – vielleicht Gus Flynn, der seit zwei Jahren irgendwo in Mexiko lebt und den man hier sucht? Hat Flynn auf Shannon geschossen?«
Er sah ihr mitten in das kreidebleich werdende Gesicht, in die großen dunkelbraunen Augen, die sich vor Entsetzen weiteten.
»Wer war es?«, frage Jericho messerscharf. »Flynn oder einer der Bravados, für die Flynn als Späher reitet, wenn die Kerle über die Grenze kommen? War es etwa der Mann, den wir nur als Don Carlos kennen, Inez, war es dieser Mann, dessen Bande die Grenze unsicher macht?«
Das Mädchen kauerte auf den Knien und sah auf Jerichos rechte Hand, die sich nun öffnete.
In der Hand lag der Marshalstern von Jerome.
»Chino Valley«, fuhr Jericho eisig fort. »Die Ranch der Shannons – sein Bruder John Adam, dort wollte er hin, oder? Jerome ist nur vierzig Meilen von Chino Valley entfernt. Die Shannons kamen manchmal nach Jerome, ich kenne sie alle – John Adam und Sue, seine Schwester. Ich habe seine Eltern gekannt und verdanke Mikel mein Leben. Ich bin der Marshal von Jerome, doch ich würde Mikel niemals verhaftet und eingesperrt haben, weil er keinen Mord begangen hat. Es war kein Mord, das weiß ich seit einigen Wochen, seit jemand aus Morenci, wo die Schießerei war, durch Jerome kam und zu John Adam Shannon wollte. Der Mann erzählte mir die Geschichte des Revolverduells zwischen Johnnie Aldrich, dem Sohn des Richters und dessen Freund Latman auf der einen und Mikel auf der anderen Seite der Mainstreet. Dieser Richter John Aldrich ist ein alter, verbohrter Mann, der nicht wahrhaben will, dass sein einziger Sohn nichts taugte. Er will auch nicht zugeben, dass sein hinterhältiger Sohn jenen Latman in Mikels Rücken schickte, damit der auf Mikel schoss, sobald er, Johnnie Aldrich, zum Revolver griff. Johnnie Aldrich plante einen Mord – der Sohn des reichen, angesehenen Richters, verstehen Sie? Ich weiß es – ganz Morenci weiß es und auch John Adam hat es erfahren und den US-Marshal auf meinen Rat hin mit der Untersuchung der Sache beauftragt. Wissen Sie, wie mächtig ein Richter sein kann, wenn er dazu noch reich ist und ihm die halbe Stadt mit einigen Minen gehört?«
»Oh – oh, Sie wissen, Sie haben gewusst …«
»Ja, ich habe es gewusst«, knurrte Jericho finster und steckte den Orden wieder in die Innentasche seiner Weste. »Da haben Sie etwas, Sie Närrin – na los, heben Sie ihn auf!«
Er ließ seine Rechte nur einmal zucken. Shannons schwerer Colt mit dem glatten dunklen Walnußkolben landete vor Inez Ramirez am Boden.
»Nun los!«, forderte Jericho das Mädchen auf. »Da ist sein Revolver, mit dem er angeblich mehr als zwanzig Menschen erschossen haben soll, dieser Revolvermann Mikel Shannon. Nehmen Sie ihn, erschießen Sie mich, wenn Sie mir nicht glauben, Inez! Ich habe Sie nicht angelogen, obwohl ich das von Ihnen nicht behaupten kann, denn Sie haben mich belogen. Der US-Marshal untersucht die Sache, sie kommt vor den Gerichtshof von Anzon, was noch Wochen oder sogar Monate dauern kann, weil die Absetzung eines Richters durch andere Richter eine verdammt eigenartige und langwierige Sache ist – überall auf dieser Welt, nehme ich an. Vielleicht setzt man bei Ihnen überhaupt nie einen Richter ab, oder? Bei uns dauert so etwas seine Zeit, ich kann es nicht ändern. Ich sage Ihnen, dieser Steckbrief wird außer Kraft gesetzt werden – nicht heute oder morgen, aber irgendwann. Ich hätte Mikel niemals verhaftet, verstanden, Inez? So – und wenn Sie mir nicht glauben und trauen,