Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden. Selma Lagerlöf

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Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden - Selma Lagerlöf Reclam Taschenbuch

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      Samstag, den 2. April

      In dieser Nacht war die Luft klar, und der Mond schien. Zu so vorgerückter Stunde hätten die Wildgänse längst schlafen müssen, doch stattdessen flogen sie über die Inseln Vämmö und Pantarholm in Richtung Karlskrona. Sie waren noch spät unterwegs, um sich im Schärengürtel einen sicheren Schlafplatz zu suchen. Auf dem Festland konnten sie nicht bleiben, denn Fuchs Smirre würde sie überall stören.

      Wie nun der Junge hoch oben durch die Luft ritt und auf das Meer und den Schärengürtel sah, der vor ihm ausgebreitet lag, erschien ihm alles ganz sonderbar und gespenstisch. Der Himmel war nicht mehr blau, sondern wölbte sich über ihm wie eine Glocke aus grünem Glas. Das Meer war milchweiß. So weit seine Augen reichten, war es mit kleinen weißen Wellen bedeckt, deren Kämme wie Silber schimmerten. Von diesem Weiß hoben sich die vielen Schäreninseln kohlrabenschwarz ab. Ob sie nun groß oder klein, flach wie Wiesen oder voller Klippen waren, alle sahen sie gleich schwarz aus. Ja, selbst Wohnhäuser und Kirchen und Windmühlen, die doch sonst weiß oder rot zu sein pflegen, erschienen gegen den grünen Himmel schwarz.

      Sie näherten sich einer hoch aufragenden Felseninsel, die mit großen, kantigen Blöcken bedeckt war, und zwischen diesen schwarzen Blöcken leuchteten Flecken von klarem, schimmerndem Gold. Der Junge musste unwillkürlich an den Maglesten, den großen Stein bei Trolle-Ljungby, denken, den die Trolle manchmal auf hohe goldene Säulen stellten, und er fragte sich, ob dies hier vielleicht etwas Ähnliches sei.

      Doch mit den Steinen und dem Gold wäre es wohl noch angegangen, hätten rings um die Insel nicht so viele Ungeheuer gelegen. Sie sahen wie Wale und Haifische und andere große Meerestiere aus.

      Der Junge erschrak nicht wenig, als er merkte, dass sich Akka gerade auf dieser Insel niederlassen wollte. Doch bald musste er mit Verwunderung erkennen, wie sehr ihn seine Augen getäuscht hatten. Die großen Steinblöcke waren nichts weiter als Häuser. Die ganze Insel war eine Stadt, und die leuchtenden Goldflecken waren Laternen und Reihen von erhellten Fenstern. Sämtliche Meeresungeheuer, die er zu sehen geglaubt hatte, waren Boote und Schiffe, die rund um die Insel vor Anker lagen. An der Landseite waren es zumeist Ruderboote und Schaluppen und kleine Küstendampfer. Doch zur See lagen gepanzerte Kriegsschiffe, einige breit mit unglaublich dicken, nach hinten geneigten Schornsteinen, andere lang und schmal und so geformt, dass sie wie Fische durchs Wasser gleiten konnten.

      Was mochte das für eine Stadt sein? Ja, das fand der Junge bald heraus, denn sein Großvater war einmal Matrose bei der Marine gewesen. Jeden Tag, solange er lebte, hatte er von Karlskrona erzählt, von der großen Marinewerft, von den Kriegsschiffen und allem, was es sonst noch in dieser Stadt gab. Deshalb fühlte sich der Junge hier gleich wie zu Hause und freute sich, dass er nun all das sehen sollte, wovon er so viel gehört hatte.

      Doch er konnte die Türme und die Befestigungen, die die Einfahrt zum Hafen verschließen, nur flüchtig wahrnehmen, denn Akka ließ sich sogleich auf einem der abgeflachten Kirchtürme nieder.

      Der Junge fand es selbst merkwürdig, dass er nicht liegen bleiben und den Morgen abwarten konnte, um die Schiffe zu besichtigen. Er hatte wohl keine fünf Minuten geschlafen, da kroch er vorsichtig unter dem Flügel hervor und kletterte am Blitzableiter und an den Wasserrinnen hinunter.

      Bald stand er auf dem großen Marktplatz, der sich vor der Kirche ausbreitete. Wer an ein Leben in der Wildnis oder weit weg auf dem Lande gewöhnt ist, dem wird stets ängstlich zumute, wenn er in eine Stadt kommt, wo die Häuser steif und gerade stehen und die Straßen so offen sind, dass einen jeder sehen kann. So erging es nun dem Jungen. Wie er da auf dem großen Marktplatz von Karlskrona stand und die Deutsche Kirche und das Rathaus und die Große Kirche betrachtete, von der er gerade herabgestiegen war, da hatte er nur noch den Wunsch, möglichst schnell auf den Turm zu den Gänsen zurückzukehren.

      Zum Glück war der Marktplatz vollkommen leer. Kein Mensch war zu sehen, falls man nicht eine Statue auf einem hohen Sockel mitrechnete. Der Junge schaute sie lange an: Es war ein großer, ungeschlachter Kerl mit einem Dreispitz, einem langen Rock, Kniehosen und klobigen Schuhen – wer mochte das wohl sein? Er hielt einen langen Stock in der Hand und sah aus, als könnte er ihn auch gebrauchen, denn sein Gesicht mit der großen Habichtsnase und dem hässlichen Mund wirkte entsetzlich streng.

      »Was hat denn diese Großlippe hier zu suchen?«, fragte der Junge schließlich. Er war sich noch nie so klein und jämmerlich vorgekommen wie an diesem Abend, und deshalb versuchte er, sich durch eine kecke Bemerkung Mut zu machen. Ohne weiter an dieses Standbild zu denken, begab er sich dann in eine breite Straße, die zum Meer hinunterführte.

      Doch er war noch nicht weit gekommen, da hörte er, dass er verfolgt wurde. Hinter ihm stapfte jemand mit schweren Schritten und stieß einen beschlagenen Stock auf den Boden. Es klang, als hätte sich der Bronzemann vom Markt persönlich auf die Wanderschaft gemacht.

      Während der Junge die Straße hinuntereilte, lauschte er auf die Schritte und wurde sich immer sicherer, dass es der Bronzemann war. Der Boden zitterte, und die Häuser bebten. Diese schweren Schritte – das konnte kein anderer sein, und als der Junge daran dachte, was er gerade zu ihm gesagt hatte, bekam er es mit der Angst. Er getraute sich nicht, den Kopf zu drehen und nachzusehen, ob er es wirklich war.

      »Vielleicht geht er nur zum Vergnügen spazieren«, dachte der Junge. »Er kann mir meine Worte vorhin doch wohl nicht übelgenommen haben. Es war ja nicht böse gemeint.«

      Anstatt geradeaus zu gehen und den Weg zur Werft zu suchen, bog der Junge in eine Straße ab, die nach Osten führte. Er wollte dem Kerl, der hinter ihm her war, um jeden Preis entkommen.

      Doch gleich darauf hörte er, dass auch der Bronzemann in diese Straße einbog, und da erschrak er so heftig, dass er nicht ein noch aus wusste. Wie sollte er in einer Stadt, wo alle Tore verschlossen waren, einen Schlupfwinkel finden? Da entdeckte er zur Rechten, ein Stück von der Straße entfernt und mitten in einer großen Parkanlage, eine alte Holzkirche. Ohne einen Augenblick zu überlegen, stürzte er in diese Richtung. »Wenn ich es nur bis in die Kirche schaffe, dann bin ich wohl vor allem Bösen beschützt«, meinte er.

      Im Laufen erblickte er plötzlich einen Mann, der an einem Sandweg stand und ihm zuwinkte. »Der will mir sicher helfen«, dachte der Junge, freute sich sehr und eilte zu ihm. Er hatte wirklich so große Angst, dass ihm das Herz in der Brust hämmerte.

      Doch als er den Mann erreichte, der auf einem kleinen Schemel am Wegesrand stand, verlor er die Fassung. »Der kann mir doch nicht zugewinkt haben«, dachte er, denn wie er jetzt sah, war der ganze Mann aus Holz.

      Er blieb stehen und starrte ihn an. Der Mann war grob geschnitten, hatte kurze Beine, ein breites, rotwangiges Gesicht, glänzend schwarze Haare und einen schwarzen Vollbart. Auf dem Kopf trug er einen schwarzen Holzhut, auf dem Leib einen braunen Holzrock, um den Bauch eine schwarze Holzschärpe, an den Beinen weite, graue Holzkniehosen und Holzkniestrümpfe und an den Füßen schwarze Holzstiefel. Er war frisch gestrichen und frisch gefirnisst, so dass er im Mondschein blitzte und blinkte, und das verlieh ihm wohl auch einen so gutmütigen Ausdruck, dass der Junge sogleich Vertrauen zu ihm fasste.

      In der linken Hand hielt er eine Holztafel, und der Junge las darauf:

      Mit matter Stimme zwar

      Bitt ich euch, seid so gut,

      Reicht mir ein Goldstück dar,

      Legt’s unter meinen Hut!

      Aha, der Kerl diente nur als Armenbüchse. Der Junge, der etwas ganz Besonderes erwartet hatte, fühlte sich nun enttäuscht. Da fiel ihm ein, dass Großvater auch von diesem Holzmann erzählt und berichtet hatte, wie gern

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