KAISERSCHMARRN, RÖSCHTI UND ANDERE SCHMANKERL. Klaus Hübner
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Die Autorin behält den Überblick und führt ihren Roman mit eleganter, alle Hauptmotive plausibel bündelnder Konsequenz an sein denn doch unerwartetes Ende. An dem dann auch klar wird, dass es mit der Einäugigkeit des Protagonisten mehr auf sich hat, als die lapidare Erklärung »Silvester 1985, Böller trifft Kind« besagt, und dass dieser Bibliothekarskrimi auch, wie ein Aufsatz von Ernest Herz in der fiktiven Kulturzeitschrift »Spiritus«, den Titel »Wann das Heilige uns für immer verlässt« tragen könnte. Mehr wird nicht verraten.
Schon dem Roman Das letzte Rennen (2016) wurden seine abseitigen Schauplätze und sein scheinbar randständiges Sujet vorgeworfen. Dem Dorfgescheiten, diesem intelligenten Unterhaltungsroman für Nicht-Einäugige, könnte es ähnlich ergehen. Doch so ist es eben: Vor Überraschungen ist man bei Marjana Gaponenko nie sicher. Ihre überbordende und dennoch sorgsam kalkulierte Fabulierlust ist geblieben, ebenso ihr sensationelles Talent zur knappen, mit wenigen Worten treffenden Figurenzeichnung, ihr schräger, süffisanter Witz und ihr genauer Blick für haarsträubende Details. Und die Ernsthaftigkeit? »An Gott kommt keiner vorbei«, konnte man in den 1960er-Jahren, als der legendäre Schalker Rechtsaußen »Stan« Libuda noch aktiv war, in der Nähe der Gelsenkirchener Glückauf-Kampfbahn lesen. »Außer Libuda.« Marjana Gaponenko hat versucht, an Gott vorbeizukommen. Aber sie blieb hängen – zum Glück für alle, die ebenfalls auf der Suche sind und sich mit gängigen Übereinkünften nicht abfinden wollen.
Marjana Gaponenko: Der Dorfgescheite. Ein Bibliothekarsroman. München 2018: C. H. Beck Verlag. 287 S.
So schmal wie dürftig. Impressionen aus den neuen EU-Ländern
Nicht nur in Österreich ist Karl-Markus Gauß ein angesehener Essayist und gefragter Rezensent. Große Verdienste hat er sich vor allem als Herausgeber der Salzburger Zeitschrift Literatur und Kritik erworben, und seine in mehreren Büchern aus den letzten Jahren nachzulesenden ethnografischen Erkundungen mittel-, ost- und südosteuropäischer Regionen wurden zu Recht gerühmt. Was hat ihn jetzt dazu bewogen, seinen guten Ruf leichtfertig aufs Spiel zu setzen und elf trotz Überarbeitung wenig inspirierte Kürzestfeuilletons, die fast alle in der Wiener Zeitung Der Standard erschienen sind, als eigenständiges Buch zu veröffentlichen? Es handelt sich hier nicht um eine Sammlung von »Wirtshausgesprächen«, wie der Buchtitel verheißt, auch nicht um Reportagen, sondern um ab und zu in ein Wirtshaus führende, aber auch dort meist in gähnender Langeweile und zerstreuter Beliebigkeit endende Prosaminiaturen, in denen manchmal gesucht skurrile Reiseeindrücke und oft nur vermeintlich originelle Beobachtungen aus einigen 2004 der EU beigetretenen Ländern dargeboten werden. Der Autor erzählt von Russen, Polen, Tataren und anderen Minderheiten an den Rändern der baltischen Staaten, vom Markt in Riga und dem ambivalenten neuen Glanz Krakaus, von den auf beiden Seiten der EU-Grenze lebenden Ruthenen, von der neuesten Stimmung in Istrien und der historisch gewachsenen Gemengelage auf Malta. Immer wieder illustrieren seine bisweilen leicht schrägen Alltagsgeschichtchen die einzige, nicht gerade sensationelle Erkenntnis des Buches: »Die EU hebt nämlich nicht nur Grenzen auf, sie schafft auch neue.« Zwei Staaten aus der »Erweiterungszone« werden erst gar nicht bereist – Zypern wird von einem griechischen Gasthaus in Salzburg aus abgehandelt, Ungarn wird im Speisewagen des »Bártok-Béla-Express« zwischen Salzburg und Wien erledigt. Die fünf Seiten über Begegnungen im slowakischen Städtchen Prešov übernimmt Gauß aus seinem Buch Die Hundeesser von Svinia. Das elfte und letzte Kapitel ist einem ganz außergewöhnlich belesenen Ost- und Mitteleuropa-Experten, einem mit nie erlahmender Neugier reisenden Geistesheroen gewidmet und setzt diesem ein mehr als peinliches Denkmal. Sehr schöne Schwarz-Weiß-Fotos von Kurt Kaindl bebildern dieses überflüssige Bändchen. Sie hätten Besseres verdient.
Karl-Markus Gauß: Wirtshausgespräche in der Erweiterungszone. Mit Fotografien von Kurt Kaindl. Salzburg / Wien 2005: Otto Müller Verlag. 88 S.
Dem späten Goethe schon ganz nah. Peter Handkes fünfter Versuch
Man liebt und verehrt ihn als Großmeister der deutschen Sprache, oder man lehnt ihn ab – überhaupt und schon immer, mindestens aber seit seinen Einlassungen zum Zerfall Jugoslawiens in den Neunzigerjahren. Kaum ein deutschsprachiger Schriftsteller von heute polarisiert so wie er. Zum weltweiten Ruhm des 1942 geborenen Kärntner Dichters haben seine »Versuche« entscheidend beigetragen: Versuch über die Müdigkeit (1989), Versuch über die Jukebox (1990) und Versuch über den geglückten Tag (1991). 2012 hat er diese Prosareihe mit Versuch über den Stillen Ort fortgesetzt. Ob der Versuch über den Pilznarren sein letzter ist?
Handke erzählt von einem Freund aus gemeinsamen Kindheitstagen, zu denen auch das auf »Gelblinge« erpichte herbstliche Ausschwärmen in die nahen Wälder gehörte. Die erbeuteten Pfifferlinge wurden zu Geld gemacht, von dem sich der Freund – Bücher kaufte. Ein Narr war der spätere Strafanwalt keineswegs, und ein halbes Leben lang hat ihm die Pilzwelt kaum etwas bedeutet. Wenige Wochen vor der Geburt seines Kindes aber wurde ihm in der »lichten Weite« eines französischen Laubwalds ein Wesen »unversehens augenfällig« – sein erster Steinpilz, »sein, ihrer zwei, ihrer drei Glückspilz«, wie er meint. Dieses Erlebnis jedoch entfaltet einen fatalen Zauber – der entrückte Freund verwandelt sich in einen kapitalen Narren, dem »alles Sonstige« peu à peu zur Nebensache wird: »Die Pilze … waren das letzte Abenteuer, und er war ihr Prophet.« Das geht bis an die »Schwelle zum Grauen«, und der märchenhafte Schluss dieser meisterlichen Geschichte, die – nicht ohne Selbstironie – viele Themen und Motive aus Handkes eigenem Werk aufnimmt und mit Bezügen zu Weltliteratur und Filmkunst nicht spart, macht das Grauen nicht kleiner. »Im Märchen wurde er geheilt. In der Wirklichkeit aber … Das Märchenhafte, im Fall des Falles, ist das Allerwirklichste, das Notwendige.« Spricht da nicht der alte Goethe? Letzter »Versuch«? Hoffentlich nicht!
Peter Handke: Versuch über den Pilznarren. Eine Geschichte für sich. Berlin 2013: Suhrkamp Verlag. 217 S.
Identität ist Luxus. Überlebenskämpfe und Liebeslügen im fernen Korea
Die Romanautorin und Essayistin Anna Kim ist heute eine respektierte Repräsentantin der österreichischen Gegenwartsliteratur. Leben in zwei oder noch mehr Sprachen ist für die 1977 in Südkorea geborene Wienerin seit jeher normal. Sie schreibt, das hat sie mit vielen aus den unterschiedlichsten Gründen von irgendwoher in den deutschen Sprachraum eingewanderten Kollegen gemeinsam, eine angenehm klare und verständliche deutsche Prosa, bei der andere Sprachen bisweilen inspirierend mitflüstern mögen. Das gilt auch für ihren jüngsten Roman, mit dem sie uns in ein Land entführt, von dessen bewegter, oft dramatischer und von Gewalt geprägter Geschichte im 20. Jahrhundert der hiesige Normalleser nicht allzu viel wissen dürfte: Korea. Bis vor Kurzem noch ein bitterarmes Land, immer eine stolze Nation, oft ein Land im Aufbruch – weltpolitisch gesehen aber nur eine kleine Halbinsel zwischen China, Japan und Russland, deren Geschicke auf verheerende Art und Weise durch die Machtgelüste und Ideologien der Supermächte bestimmt wurden. Ein uns sehr fremdes und sehr fernes Land. Die erzählten Ereignisse sind inzwischen Geschichte, und Kims Figuren sind heute kaum mehr denkbar. Warum sollte man Die große Heimkehr lesen? Lion Feuchtwanger schrieb 1935, dass man »die Linien eines Gebirges aus der Entfernung besser erkennt als mitten im Gebirge« und dass ein gegen das immer drohende »Versinken in die Geschichtslosigkeit« (Karl Marx) anschreibender historischer Roman »glaubwürdiger, bildhaft wahrer, folgenreicher, wirksamer, lebendiger« sei »als eine saubere, exakte Darstellung der historischen Fakten«. Ob das auch für Anna Kim gilt?