Die Welt, in der wir leben. Wilfried Nelles
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die Welt, in der wir leben - Wilfried Nelles страница 6
Bewusstsein
Für die jeweilige Perspektive, aus der wir die Welt sehen und die damit unser Bild der Welt, unsere Empfindungen, Meinungen und Bewertungen und zuletzt auch unser Handeln bestimmt, benutze ich den Begriff des Bewusstseins. Unter „Bewusstsein“ verstehe ich die Art und Weise, wie wir die Welt und uns selbst sehen und wahrnehmen, die Perspektive, aus der wir auf das Leben schauen und es daher erleben. „Bewusstsein“ bezeichnet zugleich unseren inneren Ort in der Welt als auch die Art und Weise, wie die Welt in uns präsent ist. Welt und Bewusstsein sind in diesem Sinne keine verschiedenen Dinge3.
Dieses Bewusstsein ist zeit- und kulturbedingt, im Allgemeinen wie beim einzelnen Menschen. Als Kind sehen wir die Welt ganz anders als in der Jugend, und für erwachsene Menschen sieht sie wieder anders aus. Und weil sie anders aussieht, ist sie auch anders; die kindliche Wirklichkeit ist eine ganz andere als die eines Erwachsenen – und beide Wirklichkeiten sind wahr. Für die Menschen des Mittelalters sah sie ganz anders aus als für uns Heutige, daher waren deren Probleme und auch die Lösungen dafür ganz andere; für eine arabische Frau sieht sie vollkommen anders aus als für eine westeuropäische, und für einen Eingeborenen im Regenwald Südamerikas sieht sie anders aus als für einen Weißen. Nochmals: Es ist nicht so, dass unsere Wirklichkeit, unsere Sicht der Welt wahrer wäre als die eines unzivilisierten Indios im Amazonasgebiet oder unserer Vorfahren im Mittelalter. Wir mögen zwar mehr wissen und sehen die Welt anders, tatsächlich leben wir aber nur in einem anderen Mythos, in dem andere Wahrheiten gelten als damals.
Ich beziehe das einmal auf die menschliche Seele und ihre Krankheiten. Psychische Probleme oder Krankheiten gab es vor der Moderne nicht. Es konnte sie nicht geben, weil es das Konzept der Psyche noch nicht gab. Das heißt nicht, dass es die Symptome nicht gab, aber sie wurden ganz anders gedeutet und demgemäß auch anders behandelt. Ein Ureinwohner in der afrikanische Savanne oder im Regenwald kannte (und kennt noch heute) keine psychischen Probleme, er wurde aber vielleicht von Dämonen heimgesucht. Das, was heute „Schizophrenie“ heißt, war damals eine Besetzung durch einen bösen Geist oder eine Verirrung der Seele, die sich aus dem Seelenraum der Gruppe gelöst hatte und haltlos umherirrte. Bei Völkern, die noch nicht vom Christentum erobert waren, kämpften die Schamanen mit Dämonen und versuchten, diesen die Seele des Kranken wieder zu entreißen und sie wieder in die Gemeinschaft zu holen. Wenn das gelang, war er geheilt. Dann kamen die Christen mit dem Kreuz, mit dem sie den Teufel bannten. Wenn im Mittelalter jemand Symptome hatte, die wir heute als Psychose bezeichnen, dann war er vom Teufel besessen, daher war die Teufelsaustreibung die angemessene Therapie.
Wir bezeichnen das heute als Aberglauben und denken, unsere Sicht wäre die richtige. Das halte ich für überheblich und falsch. Diese Behandlungen waren genauso erfolgreich oder auch erfolglos wie die heutigen Behandlungen von Schizophrenen, abgesehen davon, dass man heute die Symptome mit Chemie betäubt und damit die gesamte Persönlichkeit nachhaltig verändert und/oder die Kranken einsperrt. Von wirklicher Heilung kann keine Rede sein – von Ausnahmefällen abgesehen. Die hat es aber auch früher schon gegeben. Das heißt aber nicht, dass man wieder zu den alten Methoden zurück sollte oder auch nur könnte. Moderne Menschen kann man nicht in die Gruppenseele integrieren, weil sie diese längst und für immer verlassen haben. Wenn sie sich von Schamanen behandeln lassen oder alte schamanische Rituale abhalten, bei denen mit Trommeln und Gesängen (oder Drogen wie Ayahuasca) die Geister der Ahnen oder der Natur gerufen werden, dann wird das sie nicht zu sich selbst führen. Was für Eingeborene eine Heimkehr ist, ist für Westler eine Reise in eine andere Welt, von der man vielleicht verändert zurückkommt. Es kann einem sicher neue und tiefgreifende Erfahrungen bringen, aber seine Welt ist das nicht und wird es auch nicht. Ähnliches gilt für die Reise zum Guru nach Indien und auch für diejenige Praxis des Familienstellens, die glaubt, mit der Versöhnung mit den Ahnen und der Rückkehr in die Familienseele (Gruppenseele) so gut wie sämtliche psychischen Leiden heilen zu können.
Tatsächlich ist das jeweilige Bewusstsein die Ursache für alles, was uns als psychisches Problem oder psychosomatisches Leiden beschäftigt. Je nach Bewusstheitsstufe und/oder Kultur ist das, was für den einen ein Problem ist, für den anderen überhaupt keins, weil es als völlig normal gilt. Das gilt auch für Traumata. Ein „Primitiver“, der sich den Skalp oder irgendein Körperteil eines von ihm getöteten Feindes als Amulett oder Trophäe umhängt, ist stolz darauf, und seine Seele nimmt dabei keinen Schaden – ein moderner Westler könnte das nicht mehr tun, ohne seelisch zu verelenden; und in einer Kultur, in der die Blutrache gilt, ist man eher traumatisiert, wenn man einen Mord an seinem Bruder nicht mit einem Mord vergilt, als wenn man den Mörder tötet. Was für einen modernen Europäer ein Trauma ist, ist für einen Afrikaner oder Afghanen noch lange keins. Wenn wir zum Beispiel alle Flüchtlinge als mehr oder weniger traumatisiert ansehen, so ist das eine ganz und gar europäische Sicht, die wenig mit der psychischen Wirklichkeit der Betroffenen zu tun hat. Allgemein gesprochen sind Dinge, die für den einen ein Anlass größter Sorge oder schweren Kummers sind, für jemanden mit einem anderen Bewusstsein kein Problem.
Mensch sein heißt bewusst sein – oder: Die Frage nach dem Sinn
Unser Bewusstsein ist das, was uns von einem Tier unterscheidet, das, was das Menschsein ausmacht. Deshalb verehren wir auch Menschen, die ein ganz hohes oder weites Bewusstsein erlangt haben, etwas Jesus oder Buddha oder Laotse und viele andere, die keine Religion gestiftet haben. Viele von ihnen waren ganz einfache Menschen ohne hohe Bildung, aber ihr Bewusstsein war mit allem eins. Viele, die ganze heutige spirituelle Szene, möchten auch dorthin oder zumindest ein möglichst hohes Bewusstsein erlangen, aber die wenigsten darunter sehen, dass unser Bewusstsein auch unser größtes Problem ist und dass ein „höheres Bewusstsein“ (und Bewusstheit überhaupt) zunächst einmal auch mehr Schmerz bedeutet, denn mit steigender Bewusstheit sterben alle Vorstellungen, die wir über das Leben haben, und mit der Entstehung des menschlichen Bewusstseins ist die Einheit mit der Natur (der Garten Eden) in uns gestorben und der Mensch als Wesen, das der Natur gegenüber steht (und nicht mehr in ihr ist), geboren worden. Adam und Eva mussten es schmerzlich erfahren: Weil ihnen die Einheit des Paradieses zu langweilig wurde und sie auf die Einflüsterung der Schlange hörten, vom Baum der Erkenntnis zu kosten, wurden sie sich ihrer selbst bewusst, sahen, dass sie nackt waren, und waren aus der Einheit herausgefallen. Es bedurfte dazu nicht Gottes Strafe, die Erkenntnis selbst, das Bewusstwerden ihrer selbst brachte dies automatisch mit sich. Im Moment der Selbst-Bewusstwerdung ist der Mensch aus dem Paradies (der Einheit mit der Natur) herausgefallen. Fortan muss er sein Leben der Natur – in deren Einheit er vorher aufgehoben war, die aber von nun an sein Gegenüber ist – abringen. Seitdem fragt sich der Mensch, wer er ist und welchen Sinn sein Leben hat.
Menschen sind Wesen, die um sich selbst wissen, die wissen, dass sie leben und dass sie sterben. Kein Tier weiß das. Deshalb haben Tiere keine Religion oder Philosophie, sie fragen nicht nach dem Sinn ihrer Existenz. Sie existieren einfach. Menschen haben Bewusstsein, sie sind sich ihrer selbst, ihrer Umgebung, ihrer Herkunft, ihrer Geschichte, ihres Handelns, ihres Lebens, ihres Sterbens und in diesem Sinne der Zukunft bewusst. Wenn sie einen anderen Menschen oder ein Tier töten, dann wissen sie, dass sie