Die Welt, in der wir leben. Wilfried Nelles

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Die Welt, in der wir leben - Wilfried Nelles Edition Neue Psychologie

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schauen, der mir sonst nicht möglich gewesen wäre, und dabei Dinge zu sehen, die ich sonst nicht wahrgenommen hätte – zum Beispiel unsere ideologische Verbissenheit, die Chinesen vollkommen abgeht, unser Schwarz-Weiß- und Entweder- oder-Denken, die Überheblichkeit, die wir Lehrern und Älteren gegenüber an den Tag legen, oder unser lieb- und respektloser Umgang mit alten Menschen. Das alles (und viel mehr) konnte ich erst sehen, als ich aus der Ferne auf unsere Kultur schaute. Das gilt auch für meine zwanzigjährige Arbeit in Mittel-Ost-Europa, namentlich in Tschechien, der Slowakei und Ungarn. Hier ist der kulturelle Abstand zwar viel geringer, aber auch in diesen Ländern habe ich einen anderen Blick auf die Menschen dort und ihre Denk- und Lebensweise wie auch auf meine eigene Welt bekommen.

       DIE STUFEN DES MENSCHLICHEN LEBENS UND DES BEWUSSTSEINS

      Ich beginne meine Reise mit einer Art Landkarte, die sich mir vor gut zwölf Jahren (2007) bei einer langen Autofahrt plötzlich wie aus dem Nichts gezeigt hat. Für mich hatte sie zunächst die Bedeutung, dass sich viele Erfahrungen aus meiner Arbeit wie aus meinem persönlichen Leben plötzlich ordneten und einen Platz fanden und ich darin eine in sich schlüssige Bewegung des Lebens sehen konnte. Als ich das dann formuliert habe, erweiterte sich das Bild immer mehr, und ich sah ein Modell entstehen, das die Bewegung des menschlichen Lebens und insbesondere des Bewusstseins in ganz allgemeiner Form abbildet, vom einzelnen menschlichen Leben über soziale und kulturelle Prozesse bis hin zur Entwicklung und Veränderung ökonomischer und politischer Institutionen.

      Ich habe dieses Modell der „Lebens- und Bewusstseinsstufen“ dann in dem Buch „Das Leben hat keinen Rückwärtsgang“ (Nelles 2009) in einem ersten Entwurf vorgestellt. Es beschreibt die biologisch-lebensgeschichtliche und, analog dazu, die geistige (spirituelle) Entwicklung des Einzelnen wie des menschlichen Bewusstseins insgesamt. Es ist eine innere Landkarte, die es uns ermöglicht, einen Überblick über unser Leben zu bekommen, zu sehen, wo wir gerade stehen und auch unser Bewusstsein quasi von außen zu sehen. Daraus ist dann drei Jahre später (2011) der „Lebensintegrationsprozess“ (LIP) als praktisches therapeutisches Verfahren entstanden (Nelles 2012 und Nelles/Geßner 2014). Dieser neue methodische Ansatz kombiniert die Theorie der Lebensund Bewusstseinsstufen mit der von Bert Hellinger entwickelten Aufstellungsmethode7 und ermöglicht es, seinen (früheren und heutigen) Standort im Leben zu sehen und auch sein inneres Wesen – das, was einem von Beginn an mitgegeben wurde und sich in einem entfalten will – deutlicher wahrzunehmen. Es ist so etwas wie ein Spiegel der Seele, in dem man die Innenseite seines Lebens sehen kann.

      Im Folgenden gebe ich zunächst einen gerafften Überblick über die Lebens- und Bewusstseinsstufen, um dann Stufe für Stufe zu untersuchen, wie sich unser Leben und unser Bewusstsein in ständiger Wechselwirkung miteinander entwickeln oder bekämpfen und was Psychologie und Therapie dazu beitragen können, sich dieser Bewegung gewahr zu werden und dabei innerlich zu wachsen. Daraus ergibt sich ein klareres Verständnis der kindlichen und der jugendlichen Welt und der Bewusstseinsinhalte, die wir aus diesen Welten mit ins erwachsene Leben nehmen und die uns dort zumindest zum Teil weiterhin bestimmen und oft auch leiden lassen. Wir sind zwar einerseits erwachsen, fühlen und verhalten uns aber oft wie Kinder oder Jugendliche, was früher oder später zu Problemen, nicht selten auch zu massiven Störungen und Krankheiten führt, wobei diese Störungen und Krankheiten von mir als Versuch der Seele gedeutet werden, die Betroffenen daraufhinzuweisen, dass es an der Zeit ist, das Kindliche hinter sich zu lassen. Aus meiner Sicht sind sie der „Riss“ in der jeweiligen Biografie, durch den, wie Cohen singt, „das Licht nach drinnen“ kommen kann.

      Mein Schwerpunkt liegt dabei einmal darauf, das moderne Bewusstsein, also die Welt, in der wir in Europa (überwiegend) leben, von außen zu betrachten und dadurch die Mythen, in denen sich unser zeitgenössisches Bewusstsein aufhält, zu erkennen, und zweitens auf der Frage, wie eine Welt aussieht, die die Kindheit wie die Jugend in sich aufgenommen hat und darüber hinausgewachsen ist. Ich nenne diese Welt „Das erwachsene Bewusstsein“ oder das „Selbst-Bewusstsein“. Erst wenn man diese Welt in seiner inneren, geistigen Haltung betreten hat, ist man ganz im Leben – in seinem eigenen Leben – angekommen. Vorher lebt man mehr oder weniger das Leben seiner Herkunftsfamilie oder den jugendlichen Gegenentwurf dazu, der aber nichts Eigenes ist, sondern nur die Verneinung des Alten. Der Schritt dorthin ist unsere zweite Geburt – die erste ist die Geburt als körperlich eigenständiger Mensch, die zweite die Geburt als auch geistig eigenständiger Mensch.

      Bei der Besprechung dieser vierten Stufe, des erwachsenen „Selbst-Bewusstseins“, gehe ich auch ausführlich auf den Lebensintegrationsprozess ein, der das Herz meiner praktischen Arbeit ist. Ich habe ihn soeben ein „praktisches therapeutisches Verfahren“ genannt, aber das trifft es nur teilweise. Neben der therapeutischen hat der LIP noch zwei weitere Dimensionen, nämlich eine initiatorische und eine spirituelle. Er unterstützt den einzelnen dabei, sein Erwachsensein zu erkennen und einen stabilen Kontakt zu seinem inneren Selbst zu entwickeln und ist in diesem Sinne so etwas wie eine Initiation ins eigene Selbst. Dabei betrachten wir das gesamte Leben immer als das Wirken einer spirituellen Kraft, die man Bewusstsein, Geist oder Seele oder vielleicht auch Liebe nennen kann, die sich aber letztlich unserem Begreifen entzieht. Wir sind, wie alles Leben, ein Ausdruck dieser Kraft, sie hat in uns eine einmalige und vorübergehende Gestalt angenommen. Da sie größer ist als wir, bleibt sie uns unbegreiflich; zugleich ist dieses Größere das, in dem wir letztlich geborgen sind.

      Auch dies kann man im Lebensintegrationsprozess ganzheitlich (mental, emotional und körperlich) wahrnehmen und in sich aufnehmen. Das ist die spirituelle Dimension.

       Vom Mutterleib zum Grab: Der Weg des Leibes

      Und weil es Höhe braucht,

       braucht es Stufen und Widerspruch

      der Stufen und Steigenden.

      Steigen will das Leben und steigend sich überwinden.

       Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra

      Schauen wir zuerst auf den normalen Ablauf eines menschlichen Lebens. Er umfasst sieben Stufen:

      1. Die Zeit im Mutterleib, der Embryo oder das ungeborene Kind.

      2. Die Kindheit

      3. Die Jugend

      4. Der erwachsene Mensch

      5. Der ältere Mensch (bei Frauen ab der Menopause, bei Männern entsprechend)

      6. Der alte Mensch (modern: Rentner)

      7. Der Tod.

      Diese Lebensstufen sind klar unterschieden. Es sind „Stufen“, weil wir jedes Mal auf eine höhere und weitere Ebene steigen, eine Ebene, die mehr umfasst als das Vorherige und uns weiter schauen lässt. Jeder Übergang führt uns in eine andere, weitere und offenere Dimension des Lebens. In der Zeit dazwischen entwickeln wir uns zwar auch (das Leben ist fortwährende Bewegung und Entwicklung, es steht zu keinem Moment still), aber diese Entwicklung ist horizontal, auf derselben Ebene, während der Übergang in eine neue Stufe vertikal ist. Die horizontale Entwicklung bereitet uns nach und nach auf die nächste Stufe vor, indem wir körperlich wie geistig die Fähigkeiten entwickeln, die wir brauchen, um in die nächste Stufe eintreten zu können. Es beginnt dann etwas vollkommen Neues, bis dahin Unbekanntes. Ich beginne mit der biologischen Entwicklung.

      1. Mit der Zeugung und Empfängnis beginnt das menschliche Leben, dessen erste Phase sich in der symbiotischen Einheit mit dem mütterlichen Organismus

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