Die Welt, in der wir leben. Wilfried Nelles

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Die Welt, in der wir leben - Wilfried Nelles Edition Neue Psychologie

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Symbiose gilt für die gesamte Zeit vor der Geburt, deshalb bezeichne ich diese Lebensphase als eine Stufe, obwohl es innerhalb dieser Stufe gewaltige Unterschiede und große Veränderungen gibt. Von der embryonalen Stammzelle bis zum gebärfähigen Kind ist es eine ungeheuer differenzierte Entwicklung mit tiefen Veränderungen. Haben wir es anfangs mit einem winzigen Punkt zu tun, der in sich nicht differenziert ist, so steht am Ende dieser Stufe ein voll ausgebildeter, lebensfähiger Mensch. Auf keiner späteren Entwicklungsstufe wächst der Mensch auch nur annähernd so intensiv und umfassend und durchläuft so viele und so tiefgreifende Veränderungen. Eines jedoch gilt für die gesamte Zeit des Kindes im Mutterleib und qualifiziert sie damit als eine in sich geschlossene, von den anderen klar unterscheidbare Stufe: die Symbiose mit dem Organismus der Mutter und das vollkommene Ausgeliefertsein daran.

      Vollkommenes Ausgeliefertsein heißt: das Kind kann ohne die Mutter nicht überleben. Da der kindliche Körper noch unfertig ist, seine lebenswichtigen Organe noch nicht so weit entwickelt sind, dass sie allein funktionieren, übernimmt dies der Organismus der Mutter, und zwar natürlicherweise genau so lange, bis die Organe fertig entwickelt sind. Wenn dies der Fall ist, ist die Zeit im Mutterleib zu Ende.

       Spüren – Wahrnehmung durch die Sinne und den Körper

      In der ersten Lebensstufe entwickeln wir das Spüren, wir sind spürende, das heißt mit den Sinnen wahrnehmende Lebewesen. Das ist für mich die erste Stufe des Bewusstseins oder die erste Weise, wie wir die Welt wahrnehmen und uns in ihr orientieren: sinnliche Wahrnehmung. Das ungeborene Kind denkt und fühlt nicht (im emotionalen Sinne), sondern es spürt. Es schwingt körperlich mit der Mutter mit und spürt zugleich deren Schwingungen. Dieses Spüren ist im wahrsten Sinne des Wortes sehr eindrücklich, es drückt sich in unseren Körper ein. Anfangs ist der Embryo ja nur ein Verbund von Zellen, die sich nach und nach differenzieren und zu Gliedmaßen, Organen etc. werden. Alle Erfahrungen, die ein Embryo macht, macht er daher mit seinem ganzen Körper, und seine Sinnesorgane lassen ihn spüren, was ihm guttut und was nicht. Man kann per Ultraschall beobachten, dass ein Fötus auf Reize wie Schall, Geruch und Geschmack (sicher auch auf die erwähnten Gifte Nikotin und Alkohol) reagiert, dass er das eine mag und das andere nicht, und dass er das, was ihm nicht gefällt, zu vermeiden versucht. Es gibt sogar Beobachtungen, die nahelegen, dass Föten die Nadel bei einer Fruchtwasseruntersuchung als Bedrohung erleben und sich entweder verkriechen oder die Nadel wegzustoßen versuchen (Bourquin/Cortes 2016).

      Der Fötus weiß zwar nichts, aber er spürt alles: Ich stelle mir vor, dass er die Schwingungen der Welt, in der und von der er lebt, so ähnlich spürt, wie ein Eingeborener im Regenwald die Schwingung der Natur um ihn herum spürt und mit seinen Sinnen wahrnimmt, wann Gefahr droht und wann nicht. In meinen Aufstellungen beobachte ich zum Beispiel immer wieder, dass das ungeborene Kind spürt (und in diesem Sinne „weiß“), wenn es von der Mutter abgelehnt wurde oder es sogar einen Abtreibungsversuch gegeben hat. Was es davon aufgenommen hat, ist das Gefühl des Nicht-gewollt-Seins oder der Bedrohung seines Lebens, und sein Körper hat dieses Gefühl gespeichert und auch die damalige Reaktion darauf. Diese Reaktion – etwa, dass er sich so wenig wie möglich bewegt und nur so viel von der Mutter genommen hat, wie er unbedingt zum Überleben brauchte – hat nämlich sein Leben gerettet. Deshalb wird sie später habituell und ein scheinbar natürlicher Bestandteil seiner Lebensweise, obwohl sie tatsächlich nur ein erlerntes Verhalten ist, das einmal sehr hilfreich war.

      Kürzlich war eine Frau in einem Seminar, die mir auffiel, weil sie so grimmig dreinschaute, dass ich mich zwingen musste, nicht wegzuschauen. Es fühlte sich an, als wenn sie jederzeit auf dem Sprung wäre, einen physisch zu attackieren. Dazu passte dann auch, dass sie beim Sprechen die Fäuste ballte. Da ich meinem Impuls wegzuschauen nicht nachgegeben habe, sondern sie offen und interessiert angeschaut habe, als sie eine Frage stellte, sah ich plötzlich, dass sie sehr weiche und sanfte Augen hatte. Als sie merkte, dass ich weder Angst vor ihr hatte noch mich ihr kämpfend gegenüberstellte, sondern sie nur offen anblickte, kam das Sanfte immer deutlicher zum Vorschein, was sie allerdings gehörig irritierte, als sie es bemerkte. Bei der Arbeit mit ihr wurde dann klar, was hinter ihrer ständigen Kampfbereitschaft steckte: Ihre Mutter hatte vergeblich versucht, sie abzutreiben, so dass sie sich ständig bedroht fühlte und in der tief verinnerlichten Überzeugung lebte, dass sie jederzeit auf der Hut und bereit sein müsste, um ihr Leben zu kämpfen.

      Damit machte sie sich natürlich keine Freunde und stand ziemlich allein im Leben. Die Erfahrung, die sie schon im Mutterleib gemacht hatte – dass sie nicht gewollt und nicht gemocht und sogar bedroht ist –, bekam durch ihr eigenes automatisches Verhalten, ihr ständiges Misstrauen und ihre für alle sichtbare Kampfbereitschaft immer wieder neue Nahrung und verfestigte sich so immer mehr. Der Satz, den ich in solchen Fällen die Betroffenen zu ihrem inneren Kind sagen lasse, lautet: „Das Leben hat dich gewollt“ (oder: „Gott hat dich gewollt“). Wenn dieser Satz, der ja die Wahrheit ist – wenn er nicht wahr wäre, wäre sie tot –, tief in sie eindringt, kann die alte Angst mitsamt den entsprechenden Verhaltensmustern mit der Zeit verschwinden. Denn was zählen schon die Wünsche der Eltern gegen das Leben? Das Leben hat sich in jedem Lebewesen vergegenständlicht, und zwar genau so, wie es ist.

      Der Fötus weiß aber nicht, was Abtreibung ist, er weiß ja noch nicht einmal, dass er in der Mutter ist. Das heißt, dieses Wissen ist kein kognitives Wissen, es ist ein Körperwissen. Genau genommen müsste man sagen „sein Körper weiß es“, anstatt „er“ weiß es. Sein Körper folgt diesem „Wissen“ ganz automatisch, und später gilt das auch für die Gefühle dieses Menschen. Er lernt dann gar nicht richtig zu fühlen, sondern seine gesamte Gefühlswelt besteht nur aus diesem Grundgefühl des Bedrohtseins. Erst mit der (ganzheitlichen) Erkenntnis, dass die Bedrohung vorbei ist, kann sich solch ein Mensch auf das Risiko eines emotionalen Kontaktes einlassen und nach und nach auch das wirkliche Fühlen lernen. Genauso weiß ein Mensch in seinem Körper, ob die Mutter während der Schwangerschaft gut für ihn gesorgt, ihn als Belastung empfunden oder gar abgelehnt hat, ob sie krank war oder einen Unfall hatte, wie die Geburt verlaufen ist und ob die Mutter danach bei ihm war und er nah bei ihr oder nicht. Da dieses Wissen nicht im kognitiven, sondern im Körpergedächtnis gespeichert ist, kann es durch kognitive Methoden nicht erreicht werden.

      Ich bringe dazu noch zwei Beispiele, die zeigen, dass ein Kind seine Eltern von Anfang an kennt und dass es in seinem Körper ein Wissen trägt, das weit über das kognitive Wissen hinausgeht und sich im späteren Leben in manchmal sehr rätselhaften Symptomen ausdrücken kann. Zugleich zeigen sie die Bedeutung, die die biologischen Eltern für ein Kind haben. Es sind keine Einzelfälle, ich hatte viele ähnliche Geschichten.

       Das vertauschte Kind

      Vor vielleicht fünfzehn Jahren hatte ich eine Klientin im Alter von circa 40 Jahren, die eine Fortbildung in Familienstellen bei mir machte. Eigentlich war sie nur am Rande am Fachlichen interessiert, es ging ihr primär darum, eine gewisse Ordnung in ihr Leben zu bringen. Dort herrschte nämlich nur Chaos – alles, was sie anpackte, ging schief, im Privaten wie im Beruflichen. Sie war auffallend blass mit tiefen Schatten unter den Augen, ohne dass sie einen unsoliden Lebenswandel führte, vor allem aber war sie ständig verwirrt, obwohl sie einen klugen Verstand hatte. Alles geriet ihr durcheinander. Die Familienaufstellungen, die ich mit ihr machte, spiegelten dies genau wider: Nichts ergab einen Sinn, es herrschte nur Durcheinander. Nachdem ich das im Laufe eines Jahres zwei oder drei mal gesehen hatte, entfuhr mir bei einer weiteren Aufstellung der Satz: „Hier stimmt etwas grundsätzlich nicht, hier ist etwas gelogen.“

      Die Frau war nicht überrascht und fühlte sich auch nicht als Lügnerin hingestellt. Vielmehr begann sie zu weinen und sagte etwas wie: „Ich verstehe, was du meinst, aber ich weiß nicht, was es ist.“ Sie war verzweifelt. Am Abend, als sich die Gruppe verabschiedete, durchfuhr es mich

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