Die Welt, in der wir leben. Wilfried Nelles

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Die Welt, in der wir leben - Wilfried Nelles Edition Neue Psychologie

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Kategorien von „Gefühlen“ zu tun: erstens mit so etwas wie Wesenseigenschaften, etwas, das dem jeweiligen Menschen eigen ist wie die Farbe seiner Augen und von Anfang an zu ihm gehört und auch ein Leben lang bleibt, und zweitens mit Gefühlen und Eigenschaften, die erworben sind, wie etwa Angst, Scham oder Schuld. Sie mögen sich anfühlen, als ob sie zu einem gehörten, sind aber tatsächlich nur „aufgesetzt“ oder angeeignet aufgrund von Erfahrungen, die der Betreffende entweder selbst in der Frühphase seines Lebens gemacht hat oder die er von der Mutter übernommen hat. Das heißt zwar nicht, dass man sie einfach loswerden (überwinden, „transzendieren“) könnte, das kann man ganz und gar nicht. Aber es sind keine Wesenseigenschaften, sondern erworbene und gelernte Empfindungen und verinnerlichte Reaktionsmuster, die in den Hintergrund treten und sich schließlich auch ganz auflösen können, wenn man sie sieht. Ich betone: wenn man sie sieht, nicht wenn man sie wegmachen will. Dann verfestigen sie sich. Daraufgehe ich später ein.

      Zum Thema des übernommenen Schuld- und Schamgefühls möchte ich noch ein kleines Beispiel aus einem Kurs in Spanien anfügen. Eine junge, intelligente Frau mit einer versteckt-erotischen Ausstrahlung wirkt seltsam leblos, zugleich sehe ich in ihren Augen eine tiefe Sehnsucht nach Leben. Während sie im LIP ihrem ungeborenen Kind (Stufe 1) gegenübersteht, aber keinen Kontakt aufnehmen kann (was bedeutet, dass sie nicht in Kontakt mit ihrem inneren Wesen, mit ihrer ursprünglichen Kraft und Lebendigkeit ist), frage ich sie nach ihrer Sexualität („Wie stehst Du zu Deiner Sexualität?“), und sie antwortet: „Nicht gut, die mag ich nicht.“ Ich sehe aber eine starke sexuelle Energie und Sehnsucht in ihr und sage ihr das, aber sie kann nichts damit anfangen. Nachdem einige weitere Versuche, den Kontakt mit ihrem kindlichen Wesen zu ermöglichen, gescheitert sind, unterbreche ich den Prozess mit den Worten: „Ich kann hier nichts machen. Wir müssen warten.“ Danach weint sie, aus Verzweiflung, weil sie wieder einmal nicht weiterkommt. Das kennt sie schon lange. Ich bleibe dabei, dass ich nichts machen kann.

      Am nächsten Morgen frage ich sie, wie es ihr geht, und sie antwortet, dass sie eine schlaflose Nacht hatte, in der sie viel an ihre Mutter gedacht hat. Auf meine Nachfrage hin erzählt sie, die Mutter sei mit 16 Jahren mit ihr schwanger gewesen und deswegen von ihrer gesamten Umgebung (es war in Spanien auf dem Lande kurz nach der Zeit der Franco-Diktatur, wo noch eine sehr konservative Moral herrschte) moralisch verurteilt worden. Ich sage: „Dann war sie also in den Augen der anderen eine Hure. Verstehst Du jetzt, wieso du Deine Sexualität nicht magst und mit diesem ungeborenen Kind nichts zu tun haben willst? Das sind die Gefühle deiner Mutter, das ist das, was in ihr ständig präsent war, während sie mit Dir schwanger war. Sich ihrer Sexualität zu überlassen hat für sie ganz konkret bedeutet, verachtet zu werden. Und Du hast das aufgesaugt wie ein Schwamm, aber in Wirklichkeit bist Du genau so eine heiße Frau, wie es Deine Mutter war. Das ist Dein Zwiespalt: Du darfst nicht so sein, wie Du bist, und der Ausweg, den Du bisher lebst, ist, Dich nicht zu spüren und Deine Sexualität zu verurteilen.“

      Ihr fiel ein Stein vom Herzen, und ihr blasses Gesicht bekam plötzlich Farbe. Später habe ich von ihrem therapeutischen Lehrer die Mitteilung bekommen, dass es ihr wesentlich besser gehe und er den Eindruck habe, dass sich der Knoten, an dem er lange vergeblich mit ihr gearbeitet hatte, endlich gelöst habe.

      Ich verfolge das jetzt nicht weiter, wir kommen später noch dazu, wie Integration und Heilung geschehen. Hier soll es nur illustrieren, wie nachdrücklich sich das, was die Mutter während einer Schwangerschaft bewegt, im Kind einprägen kann. Das gilt nicht nur für „negative“, sondern auch für alle positiven Empfindungen. Da diese Zeit aber völlig im Dunkeln liegt, sind diese Empfindungen unserem Bewusstsein nicht zugänglich, und das rationale Ich verurteilt diese irrationalen Dinge mit der Folge, dass man entweder innerlich gespalten ist oder abgeschnitten von seinen Gefühlen und tiefen Empfindungen.

      Das Mitschwingen mit der Mutter ist für das werdende Kind die natürliche Weise, seine Lebensgrundlagen zu sichern. Es geht automatisch mit dem mit, was es in der Umgebung, in die es eingelassen ist, empfindet. Wenn die Mutter hungert, wird es weniger Nahrung aufnehmen, wenn sie krank, gestresst und belastet ist, wird es sich klein machen und wenig bewegen, um sie nicht noch mehr zu belasten und damit seine eigene Lebensgrundlage zu gefährden.

      Thomas Geßner formuliert es wie folgt: „Jedes Ungeborene im Mutterleib trifft seine Eltern dort an, wo sie sich innerlich aufhalten. Es erreicht die Mutter unmittelbar über die körperliche Resonanz. Den Vater erreicht es mittelbar über die Resonanz zwischen den Elternteilen.19“

       Unser Ursprung ist das Leben selbst

      In unserer Sprache haben wir die Begriffe „Muttererde“ oder „Mutterboden“. Sie bezeichnen die fruchtbare Erde, in der ein Samen aufgeht und wächst. In genau diesem Sinne ist die menschliche Mutter die Erde des Menschenkindes. In diese „Erde“, in den weiblichen Schoß, wird das befruchtete Ei hineingelegt (bzw. es lässt sich von selbst dort nieder – der Fachbegriff lautet „Nidation“, Einnistung) und wächst dann, genau wie ein pflanzliches Samenkorn, im Schutz der Erde heran, bis es stark genug ist, aus ihr herauszukommen und sich dem Licht der Sonne, dem Regen und dem Wind auszusetzen. Die Erde, die Mutter, ist aber nur der Boden, in dem wir wachsen. Diese Erde formt uns, zusammen mit den mütterlichen Genen und denen des Vaters. Es geht hier aber nicht um unsere Gene, es geht um die Seele und um unser geistiges Potenzial, das ich auch das „Inbild“ nenne. Auch das wächst in der Mutter. Dieses Inbild, das in diese Erde hineingelegt wird und das wir – oft unter vielem, was sich an äußeren Einflüssen darübergelegt hat, verborgen – manchmal erahnen, stammt aber nicht von den Eltern. Es stammt von „Gott“. Es ist der Same Gottes in uns. Wem das Wort Gott nicht gefällt, kann auch sagen „vom Leben selbst“, vom „Bewusstsein“ oder vom „Geist“, aber mir scheint „Gott“ immer noch das stärkste Wort. Wie auch immer: An jeder menschlichen Zeugung sind drei beteiligt: der Vater, die Mutter und das Dritte.

      Khalil Gibran hat dies in poetischen Worten beschrieben:

       Eure Kinder sind nicht eure Kinder, sie sind die Söhne

      und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst.

      Ihre Seelen wohnen in dem Haus von morgen,

      das ihr nicht betreten könnt,

      noch nicht einmal in euren Träumen.20

      Wir sind von Anfang an, vom Zeitpunkt der Vereinigung der väterlichen Samenzelle mit der mütterlichen Eizelle an, vollständig. Alles, was wir sind, alles, was wir je sein können, ist vollständig vorhanden, wenn auch noch ganz eingekapselt und undifferenziert. Mit anderen Worten: Wir sind uns vorgegeben, wir stehen weder unseren Eltern und deren Wünschen und Erwartungen (etwa ob es ein Wunschkind ist oder ein Junge oder ein Mädchen sein soll) noch uns selbst, unseren eigenen (natürlich erst viel später auftauchenden) Wünschen und Erwartungen, zur Verfügung. Das bedeutet auch: Die (weit verbreitete) Vorstellung, man sollte anders sein, als man ist, man sei nicht richtig, ist vollkommen nichtig und illusorisch.

      Was ich oben zur Geburt gesagt habe, gilt auch für die Zeugung und die Empfängnis, also für unsere Entstehung: auch sie ist reines Geschehen, vollkommen unpersönlich und ohne jede Freiheit. Es ist nicht so, dass jemand dich geplant oder entworfen oder gemacht hätte. Auch dies kann angesichts unserer modernen Lebenshaltung und unserer Ideen über und Erwartungen an uns selbst, an unsere Eltern wie auch an unsere Kinder, nicht genug betont werden: Niemand hat uns geplant, entworfen und gemacht! Es ist auch niemand verantwortlich für das, was wir sind, vor allem niemand „schuld“. Wir sind einfach, das ist alles. Wir sind zwar nicht nur biologische Wesen, aber wir existieren nur als biologische Wesen, und ein Blick auf den biologischen Zeugungsvorgang vermag dieses gänzlich unpersönliche, ungeplante Geschehen, das uns hervorbringt, eindrucksvoll zu illustrieren.

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