Die Welt, in der wir leben. Wilfried Nelles

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Die Welt, in der wir leben - Wilfried Nelles Edition Neue Psychologie

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den Körper. Wenn sich solche Erfahrungen im Körper noch nicht zu sehr verfestigt haben, kann sich dieser dann vielleicht ebenfalls verändern.

      Kurz vor der Drucklegung dieses Buches erhalte ich folgende E-Mail von ihm:

      Lieber Wilfried,

      also bin ich am Samstag, trotz Corona, zu meinen Eltern gefahren und habe reinen Tisch gemacht; und es war erstaunlich undramatisch.

      Ich habe das Gespräch sehr bewusst mit dem Satz begonnen: „Ich bin ein Mann“ (der keine langen Vorreden macht). Mein Vater konnte im Gespräch emotional ganz gut mitgehen, er war kein bisschen überrascht, er war erleichtert, ihm war wichtig, dass alles so bleibt, wie es ist.

      Ich habe ihm gesagt, dass er immer mein Papa war, es ist und auch bleibt. Und ich habe mich bei ihm bedankt für alles, was er für mich getan hat.

      Was wirklich interessant war: als ich angefangen habe zu sprechen, habe ich gemerkt, dass meine Mutter hart wie Stein wurde und total angepisst war im Angesicht dessen, was kommen würde. Und ich habe kurz gedacht: meine Mutter muss doch auch erleichtert sein oder irgendwie begrüßen, was ich gerade mache … Dann ist mir das Märchen vom wilden Mann eingefallen, das du in Nettersheim erzählt hast und mir war sofort klar: meine Mutter wird mir den goldenen Schlüssel niemals geben, den muss ich mir nehmen und zwar auch gegen ihren Willen. Und das habe ich dann genau in dieser Haltung gemacht.

      Ich habe mich für mich entschieden.

      Ich bin der Zerstörer.

      Und ich bin damit vom Spielbrett gesprungen und stelle mich nun nicht mehr schützend vor den einen oder die andere oder versuche ihnen etwas abzunehmen.

      Nun können die beiden mal miteinander reden oder es bleiben lassen.

      … In mir ist etwas ruhig geworden, hat sich entspannt.

      Meine Antwort:

       Du bist nicht der Zerstörer, Du bist der Bejaher, Du hast „ja“ zu Dir selbst gesagt. Alles, was dadurch zerstört wird, sind Illusionen. Ganz rund wird die Sache, wenn Du jetzt noch siehst, dass Du Deiner Mutter und ihrem Verhalten Dein Leben verdankst und ihr das dann auch sagst, etwa: „Für mich war alles gut so, wie Du es gemacht hast.“

       Wie „fühlt“ ein ungeborenes Kind?

      In Aufstellungen, bei den Stellvertretern, die auf der Position 1 im LIP stehen, kann man einen Einblick in die Welt des Kindes vor und um seine Geburt herum bekommen, weil sich die Stellvertreter so weit wie möglich auf ihre körperlichen Empfindungen einlassen. Sie drücken dann das Körperwissen des Kindes mit ihrem Körper aus, und ein geübter Aufstellungsleiter kann diese Körperäußerungen sehen und dechiffrieren. Manchmal tauchen dabei belastende Dinge und Prozesse wie die in den Beispielen beschriebenen auf, manchmal zeigt sich aber auch das innere Wissen des Kindes um das, was als Potenzial in ihm steckt und sich durch sein Leben entwickeln will..

      James Hillman hat dazu ein theoretisches Konzept entwickelt, das er als „Eicheltheorie“ bezeichnet16. Ebenso, wie eine Eichel ein Inbild des gesamten späteren Baumes (eben das Bild einer Eiche und nicht das einer Tanne oder Buche) in sich trägt, und wie alles, was diesen Baum ausmacht, bereits von Anfang an in der Eichel vorhanden und eingeschlossen ist, auf dass es sich später, wenn sie aufgeht, zu dem einzigartigen Baum entwickelt, der in nuce bereits (in der Eichel) existiert, trägt auch der Mensch, so Hillman, seine Bestimmung vor allen äußeren Einflüssen bereits in sich. Er meint damit nicht nur die äußere, sondern auch die innere Gestalt, die sich durch das gelebte Leben eines Menschen verwirklichen will17.

      Mit dem Wort „Bestimmung“ bin ich allerdings vorsichtig, denn in welcher Weise sich dieses Potenzial entfalten wird, scheint mir gänzlich offen zu sein – ähnlich wie in einer Eichel zwar die gesamte spätere Eiche enthalten und in ihrer potenziellen Gestalt vorgezeichnet ist, aber keineswegs eingeschrieben ist, ob aus der Eichel je ein ausgewachsener Baum wird, ob ein Wildschwein die Eichel oder ein Reh die junge Pflanze frisst, wie die Umweltbedingungen das Wachstum dieses Baumes beeinflussen und wie dieser dann tatsächlich aussieht.

      Die Beobachtungen, die ich und meine Mitarbeiter und Kollegen seit acht Jahren in mehreren tausend LIP-Aufstellungen18 gemacht haben, stützen dies und legen den Schluss nahe, dass wir bereits vor der Geburt ein implizites Wissen darüber haben, was und wer wir sein können, was das Potenzial ist, das in uns angelegt ist. Bevor ich mit dem Lebensintegrationsprozess gearbeitet habe, hätte ich dies nicht für möglich gehalten. Ich war völlig überrascht, als sich dies in den ersten LIP-Aufstellungen zeigte. Ich gehe bei der Darstellung des LIP (Stufe 4, ab Seite 231) ausführlich darauf ein. Wie gesagt: dies ist ein implizites Wissen, es ist dem Fötus nicht bewusst, wie ihm seine gesamte persönliche Existenz nicht bewusst ist. Wenn es dem Menschen aber später bewusst wird, erkennt er es als etwas, das er „irgendwie schon immer wusste“. Er „weiß“ oder kennt es deshalb, weil es von Anfang an in ihm verkörpert ist. Es ist etwa so, wie wenn man zum ersten Mal sein Gesicht in einem Spiegel sieht – man sieht und erkennt sich, man sieht den, der man schon immer war und von innen her, ohne das Gesicht zu sehen, immer schon gekannt hat, von außen. Es ist unbezweifelbar man selbst, und deshalb ist es zugleich ein tiefes Glückserleben wie eine Art Schock – es ist unausweichlich.

      Dazu gibt es eine schöne Parabel aus dem Osten:

      Ein Löwe hat Hunger und nähert sich einer Herde Schafe. Als er nach einem geeigneten Mahl Ausschau hält, traut er seinen Augen nicht: Mitten unter den Schafen ist ein junger Löwe und frisst Gras wie ein Schaf. Er schüttelt sich kurz, dann jagt er los und packt sich den Löwen. Der zittert um sein Leben.

      Der Alte schleppt ihn zu einem nahegelegenen Teich, packt ihn am Nacken und hält seinen Kopf über das Wasser. Da sieht der junge Löwe im Spiegel des Wassers sein wahres Gesicht, und ein lautes Löwengebrüll bricht aus ihm heraus.

      Wenn solche Dinge sich im therapeutischen Gespräch, in einer Aufstellung oder durch andere therapeutische Prozesse zeigen, müssen wir aber beachten, dass das, was ein Klient dazu sagt und empfindet oder was ein Stellvertreter in einer Aufstellung über die „Gefühle“ eines ungeborenen Kindes oder eines Säuglings äußert, Empfindungen sind, die in die Sprache von Erwachsenen übersetzt sind. Wenn er also von Liebe spricht, ist das nicht das, was ein Fötus oder ein Säugling tatsächlich so fühlt. Liebe ist für den Säugling eher ein Zustand, aber kein emotionales Gefühl, der Zustand der innigen Verbundenheit und des Mitschwingens mit der Mutter. Und wenn ein Stellvertreter sagt, dass das ungeborene Kind etwas weiß, dann ist das ein anderes Wissen als das, was Erwachsene üblicherweise darunter verstehen. Der Fötus ist dann dieses Wissen – oder die Liebe oder die Lebensfreude, die Kraft oder die Sensibilität, die Sinnlichkeit oder die Verspieltheit.

      Ist er auch die Angst? Die Scham? Die Schuld? Auch das sind Gefühle, die Stellvertreter auf der Position der ersten Lebensstufe zeigen und äußern. Scham und Schuld begegnen mir zum Beispiel ganz häufig bei Menschen, deren Mütter sehr jung und ungewollt schwanger geworden sind, sofern dies in einer Zeit oder einer Kultur geschah, in der voreheliche Beziehungen verurteilt werden. Dann überträgt sich das Scham- oder Schuldgefühl der Mutter oft auf das Kind. Dasselbe gilt, wenn eine Mutter Angst vor der Geburt hat oder sich – etwa in Kriegsoder anderen Notzeiten – um das Überleben der Familie sorgt, oder wenn sie vom Vater des Kindes verlassen wird oder das Kind gewaltsam gezeugt wurde, oder, oder. Das, was die werdende Mutter über längere Zeit oder sehr stark belastet,

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