Die Welt, in der wir leben. Wilfried Nelles
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Stufe 1: Die Mutter als Erde, die Erde als Mutter – Das symbiotische Einheitsbewusstsein
Die Welt des ungeborenen Kindes
Am Anfang sind wir noch ganz eingewickelt. Nichts deutet von außen betrachtet darauf hin, dass aus der Vereinigung der Samen- und der Eizelle ein Mensch mit Kopf, Rumpf und Gliedmaßen, mit Augen und Ohren, Mund und Nase, mit einem ganz eigenen, nie dagewesenen Gesicht, einem ebenso eigenen und unverwechselbaren Geist und all den unglaublich komplexen inneren Organen wachsen könnte. Tatsächlich jedoch ist dies alles schon vorhanden, der ganze Mensch, der ich heute bin, war schon vollständig in dem befruchteten Ei vorhanden. Er war nur noch eingewickelt, noch nicht ausgewickelt oder entwickelt. Es war vorhanden als Potenzial, wobei Potenzial aber nicht so etwas wie eine von vielen Möglichkeiten meint, sondern etwas, das alles enthält, was je sein kann.
Bevor Sie an dieser Stelle weiterlesen, halten Sie bitte kurz an und machen sich dies klar: Sie waren von Anbeginn an der Mensch, der Sie heute sind. Sie haben zwar, und auch dies vom Moment der Empfängnis an, fortwährend, in jeder Sekunde Ihres Lebens, Erfahrungen gemacht, die Sie geprägt und auch mit geformt haben und die Ihr Bild von sich selbst und auch von der Welt geprägt haben, aber außer diesen Erfahrungen ist nichts dazugekommen, was damals nicht schon da gewesen wäre. Und: Niemand hat Sie entworfen, niemand hat Sie geplant, niemand hat Sie gemacht – nicht Ihre Eltern, nicht Sie selbst, nicht ein höheres Wesen. Sie sind, was Sie immer schon waren, und Sie waren immer schon, was Sie sind.
Die erste Stufe des menschlichen Lebens ist das Heranwachsen des Kindes im Mutterleib. Es beginnt mit der Zeugung-Empfängnis oder spätestens mit der Einnistung der befruchteten Eizelle im Uterus. Tast-, Geruchs-, Geschmacks- und Gehörsinn entwickeln sich schon im ersten Drittel der Schwangerschaft und sind mit 12 – 14 Wochen voll ausgebildet. Bereits in dieser Zeit reagiert der Embryo auf Reize, er meidet Unangenehmes und wendet sich angenehmen Reizen zu. Wie sieht seine Welt aus, wie erlebt er sie? Genaues wissen wir nicht, denn niemand erinnert sich daran. Obwohl – das ist nicht ganz korrekt: Es gibt eine Erinnerung, nur ist sie uns nicht bewusst, weil sie nicht in unserem kognitiven Gedächtnis ist. Das ist um diese Zeit noch nicht ausgebildet. Die Erinnerung daran sitzt in unserem Körper, wahrscheinlich in jeder einzelnen Zelle. Wir sind verkörpertes Bewusstsein, die Erfahrungen aus dieser ersten Lebensstufe gehen direkt in unseren Körper ein. Und wir sind von vorne herein menschliches Bewusstsein. Es ist vollkommen ausgeschlossen, dass aus uns ein Pferd oder ein Affe wird. Das heißt, dass nicht nur unser Körper und seine spätere Form, sondern auch unser Geist und unsere Seele10, die Möglichkeit der Selbsterkenntnis, des Selbst-Bewusstseins und des Welt-Bewusstseins, bereits in uns angelegt ist und sich vom ersten Tag unserer Existenz an zu entwickeln beginnt.
Mittels moderner Techniken können wir inzwischen ein bisschen in die Welt, in der das Kind heranwächst (in den Uterus) hineinschauen und zum Beispiel sehen, wie ein Embryo langsam eine Form annimmt, wie etwas, was später sein Herz sein wird, pulsiert, wie sich Kopf, Rumpf und Gliedmaßen nach und nach deutlicher herausbilden und sich bewegen, und einiges mehr. Wir können aber nicht in das werdende Kind hineinschauen, wir sehen es immer nur von außen. Daher wissen wir so gut wie nichts darüber, wie sich dieses Leben im Mutterleib für das Kind selbst anfühlt. Jede Technik vermittelt uns nur Bilder von seiner Außenwelt, aber keine von seiner Innenwelt, davon, wie das werdende oder das frisch geborene Kind selbst seine Welt wahrnimmt.
Im letzten Drittel der Schwangerschaft haben Mütter, die eine gute Körperwahrnehmung haben, manchmal ein Gefühl dafür, wie es dem Kind in ihnen geht. Ich erinnere mich, dass ich zu Beginn meiner Arbeit als Familienaufsteller einmal eine Schwangere im Kurs hatte, die wenige Wochen vor der Entbindung stand. Sie war unsicher, ob sie sich und vor allem dem Kind die oft sehr emotionalen Prozesse bei einer Familienaufstellung zumuten könnte. Ich habe ihr gesagt, sie soll darauf achten, wie sich das Kind in ihrem Bauch verhält. Das hat sie getan, und sie berichtete, es sei so ruhig gewesen wie sonst selten – ruhig, nicht bewegungslos. Für die Mutter fühlte es sich an, als sei das Kind mit den Bewegungen bei den Aufstellungen mitgeschwungen, dabei aber ganz entspannt gewesen, was sich dann auf sie übertragen hätte. Es kann natürlich auch umgekehrt gewesen sein, dass die Mutter entspannt war, oder beides hat ineinander gewirkt.
Wie die Welt des Kindes wirklich aussieht, wissen wir jedoch nicht. Wir können es nur vermuten. Sicherlich gibt es dort aber kein „richtig“ und „falsch“ oder „gut“ und „schlecht“ (im Sinne einer Bewertung). Wir wissen zwar heute, dass es für die Entwicklung gesunder Organe schädlich (also nach unseren Maßstäben „schlecht“) ist, wenn eine Schwangere viel raucht oder trinkt, aber das Kind in ihr kennt nur das, was ist. Es gibt nichts anderes, es gibt keine Alternative. Es gibt auch keinen Alkohol oder Nikotin, es ist alles einfach so, wie es ist. Es gibt auch keine Mutter und kein Ich oder Selbst. Es gibt nur fragloses Dasein. Aber kein totes oder stumpfes Dasein, sondern ein waches, sinnliches, bewegtes und wachsendes. Der Embryo spürt nämlich, ob etwas angenehm ist oder nicht, vielleicht auch, ob ihm das, was er von der Mutter bekommt, gut tut oder nicht.
Gibt es Bewusstsein? Sicherlich, denn es gibt im späteren Leben keinen Moment, wo von außen so etwas wie ein Bewusstsein in den Menschen hineinfahren würde, also muss es schon vorhanden sein – ähnlich wie das Herz und die Lunge und die Beine schon vorhanden sind, bevor sie als Herz, Lunge oder Beine sichtbar sind und bevor sie ihre spätere Aufgabe übernehmen. Die Zellen „wissen“ auch, dass sie menschliche und keine tierischen Zellen sind und zu welchem Körperteil sie sich zu entwickeln haben, ohne dass wir wissen, woher sie dies wissen11. Dieses Bewusstsein ist aber noch kein bewusstes Sein, es ist sich seiner selbst und auch seiner Umgebung nicht bewusst. Das Bewusstsein seiner selbst entsteht erst nach der Geburt, und auch dann nur ganz langsam. Der Prozess der Bewusstwerdung endet auch nicht beim Kind, auch nicht in der Jugend und beim Erwachsenen. Er endet erst, wenn das Bewusstsein alle persönlichen Welten durchschritten hat und ganz bei sich selbst angekommen ist. In meinem Modell ist das die letzte Stufe, die Erleuchtung oder der Tod des individuellen Bewusstseins.
Symbiose
Für das entstehende Kind ist die Mutter nicht verschieden von ihm, es existiert in Einheit mit ihr und kann ohne sie nicht existieren. Das Charakteristische dieser Phase ist die körperliche Symbiose mit der Mutter. Das unterscheidet diese Lebensstufe von allen anderen. Das ungeborene Kind ist ganz in den mütterlichen Organismus eingelassen, es hat an ihm teil und ist in ihn verwoben, ohne jedoch ein fester Bestandteil davon zu sein. Deshalb schreibe ich „Symbiose“ (Zusammenleben) und nicht „Einheit“. Vonseiten des Kindes wird es jedoch wie eine Einheit wahrgenommen. Das heißt: der körperlichen Symbiose entspricht auch eine Symbiose im Bewusstsein des Kindes. Daher bezeichne ich die erste Stufe unseres Bewusstseins als „symbiotisches Einheitsbewusstsein“. Das Kind kann zwar wahrnehmen, aber es kann nicht zwischen sich und seiner Umgebung, also der Mutter oder, wenn es mit einem anderen Embryo zusammen aufwächst, zwischen sich und diesem anderen Wesen, unterscheiden.
Wenn beispielsweise neben ihm ein Zwilling heranwächst, nimmt er diesen wie einen Teil von sich selbst wahr12. Deshalb wird der Tod eines Zwillings im Mutterleib wie das Sterben eines Teils von sich selbst erfahren, so dass das überlebende Kind sich später oft nicht als vollständig empfindet oder das Gefühl hat, nicht ganz da zu sein oder nicht sein eigenes Leben zu leben. Daraus kann sich unter anderem auch das Gefühl speisen, im falschen Körper zu sein, etwa das falsche Geschlecht zu haben. Das ist manchmal nichts anderes als eine Verwechslung (Identifikation) mit einem verstorbenen andersgeschlechtlichen Zwilling. Auch bei Zwillingen, die beide leben, sehe ich in meiner Arbeit immer wieder, dass es den Betreffenden