Die Welt, in der wir leben. Wilfried Nelles
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Dass wir Wesen mit Bewusstsein sind, dass wir uns unserer Existenz, unserer Handlungen und der Tatsache unseres Sterbens bewusst sind, ist nicht nur ein großer Vorteil und ein evolutionärer Sprung gegenüber Tieren, sondern zugleich unser größtes Problem. Ein Tier hat weder Schuldgefühle noch Ziele, die es glaubt verwirklichen zu müssen. Ein Tier fragt nicht nach dem Sinn seines Handelns und der Bedeutung seines Lebens, wir müssen dies. Der Mensch braucht einen Referenzrahmen, etwas, in dem sein Leben, sein Handeln und vor allem sein Tod einen Sinn machen, etwas, in das wir eingebunden sind. Ein Tier ist eingebunden in seine Natur, wir sind aus der Natur ausgebrochen. Die Natur ist sozusagen das Paradies, der selige Urzustand. Mit dem Biss in den Apfel der Erkenntnis, mit dem Erkennen, dass „ich bin“, ist dieser Urzustand, das rein natürliche Leben, zu Ende. Damit taucht ganz automatisch die Frage auf: Wer oder was bin ich? Warum bin ich? Wozu? Wozu leben, wozu sterben? Wozu dies tun, wozu jenes? All dies ist nicht mehr fraglos wie bei einem reinen Naturwesen. Aus diesen Fragen ist das entstanden, was wir im weitesten Sinne Kultur nennen.
Das Ende der großen Erzählungen
An deren Anfang steht die Religion, zunächst in der Form des Mythos. Der Mythos ist eine Erzählung, eine Erzählung über den Ursprung, über die Herkunft des Menschen, über seine Ahnen und über den Sinn seines Daseins. Diese Erzählung ersetzt die Natur, er ersetzt das fraglose Existieren und gibt der menschlichen Existenz damit wieder einen Ort. Er lebt zwar immer noch in engster Symbiose mit der Natur, aber er ist nicht mehr (nur) Natur. Nach dem Verlust der Heimat in der Natur hat er eine neue Heimat, nämlich den Mythos. Die Natur, die Erde ist zwar noch seine „Mutter“, aber er lebt nicht mehr in der Mutter, sondern hat sie schon als Gegenüber.
Es spielt zunächst keine Rolle, ob der Mythos in einem faktischen Sinne wahr ist. Dies wird erst dann zum Problem, wenn der Mensch Erfahrungen macht, die dem Mythos widersprechen. Wenn viele oder bedeutsame Einzelne diese Erfahrung machen, wird er durch einen anderen, weiter gefassten Mythos ersetzt. Der nächste große Schritt, die nächste Stufe ist dann der Schritt vom Mythos zur Religion. Sie gibt uns eine neue Heimat, in der Erfahrungen aufgehoben sind, die der Mythos nicht mehr fassen konnte. Aber mit der Zeit – genauer gesagt: mit den Entdeckungen, die den Naturwissenschaften vorausgingen und vollends dann mit deren Erkenntnissen – ist auch der Rahmen der Religion zu eng geworden. Auch sie gibt dem Menschen keine Heimat mehr.
In den Anfängen der Aufklärung hat man dann geglaubt und gehofft, in der Vernunft und der Wissenschaft eine neue Heimat zu finden, also einen noch weiteren Rahmen, der dem menschlichen Dasein wieder einen Sinn, eine Einbindung in etwas Größeres gibt. Diese Hoffnung ist mit dem Eintritt in die Moderne (um 1900) bereits verloren gegangen, denn die Wissenschaft und die Vernunft, die die Religion abgelöst haben, können keinen Sinn erzeugen, können uns nicht sagen, wie wir leben sollen und auch nichts über die Wahrheit sagen. Es gibt keine zwei Philosophen, die einer Meinung sind und die Welt gleich sehen. Wenn man unterstellt, dass sie alle hervorragend denken können und den Gebrauch der Vernunft beherrschen, bedeutet das, dass man mit Denken der Wahrheit nicht näherkommt, sonst müssten die großen Philosophen alle übereinstimmen4.
In den mit der Vernunft und der Wissenschaft begründeten und mit kalter Rationalität geplanten und durchgeführten Massenmorden der Nationalsozialisten und den Todeslagern und kaltblütigen Gräueltaten der Kommunisten im Namen des „Fortschritts“ und der „Befreiung der Menschheit vom Joch der Sklaverei“ ist die Hoffnung auf die Erlösung durch die Vernunft dann endgültig vernichtet worden. Wir haben sie aber noch nicht beerdigt, wir wollen den Tod der Vernunft noch nicht wahrhaben. Wir klammern uns daran, weil dahinter die absolute Wüste der Sinnlosigkeit lauert. In dieser Wüste kann der Mensch nicht leben. Alle ideologischen Kämpfe heute sind nichts als verzweifelte Versuche, dieser Wüste zu entrinnen und eine neue Heimat zu finden – anders gesagt: eine neue Erzählung, die für moderne Menschen Sinn macht, die in der Lage ist, ihre Erfahrungen zu integrieren und ihrem Leben damit eine Mitte und eine Richtung zu geben. Das gilt auch für die spirituelle Suche. Letztlich ist sie eine Suche nach Heimat.
Die Sinnfrage und die Psychologie
In dieser Orientierungslosigkeit wenden sch die Menschen heute – abgesehen davon, dass sie alle möglichen Mythen wieder ausgraben oder neu erfinden und Zuflucht bei fremdartigen Religionen oder, ganz modern, quasi natürlichen „Identitäten“ suchen – vor allem an die Psychologie und Psychotherapie. Sie suchen dort zwar nicht unbedingt die große Erzählung, aber doch zumindest eine kurz- oder mittelfristige Orientierung, kleine Erzählungen sozusagen, die den vielfältigen Problemen des Alltags bis hin zu Krankheiten einen sinnstiftenden Rahmen geben, zumindest für eine gewisse Weile. Sie stellen, mal explizit, mal mehr implizit, Fragen wie die folgenden:
Warum leide ich, woher kommen meine Probleme, wie kann ich sie überwinden? Wie kann ich besser, glücklicher, erfolgreicher werden, mein Leben besser in den Griff bekommen, eine bessere Beziehung haben? Mit meiner Familie, meinen Eltern wie meinen Kindern besser klarkommen? Wie meinen Stress reduzieren oder mich vor Krankheiten schützen? Kann ich das überhaupt? Was bedeutet meine Krankheit, meine Behinderung, mein Unfall? Was will mir der Tod meines Mannes oder meiner Frau oder meines Kindes sagen?
Zwar ist das oft rein technisch gemeint (der Therapeut soll das Problem wegmachen), aber dahinter schwingen, wenn man genau hinhört, die großen Fragen mit. Manchen sind sie bewusst, manchen nicht oder nur halb, aber sie sind immer mit dabei: Wer oder was bin ich? Wozu existiere ich? Was hat das alles für einen Sinn? In zigtausenden von Workshops und Beratungszimmern suchen Millionen Menschen nach Antworten – noch in meiner Kindheit und Jugend in den 1950er und 60er Jahren wäre dies undenkbar gewesen. Obwohl die Generation meiner Eltern und deren Familien zwei schreckliche Kriege zu verarbeiten hatte, kam kaum jemand auf die Idee, die Wochenenden in psychologischen Seminaren zu verbringen, und zum Psychotherapeuten ging auch so gut wie niemand, der nicht ernsthaft psychisch krank war, also an einer Schizophrenie oder schweren Depression litt und vom Arzt mehr oder weniger in eine „Anstalt“ gezwungen wurde. Heute sind nicht nur die Praxen der ärztlichen und psychologischen Kassentherapeuten hoffnungslos überfüllt, sondern Menschen aus allen Schichten, vom Manager oder der Ärztin bis zum Handwerker und zur Bauersfrau, vom Millionär bis zum Harz IV-Empfänger, suchen Rat, Hilfe und Lebenssinn in Workshops aller Couleur, und nicht wenige darunter lassen sich selbst zum psychologischen Lebensberater ausbilden, weil die Nachfrage danach rasant steigt. Wenn ich sage, die großen Fragen schwingen dahinter mit, dann heißt das auch, dass sich die Psychologie diesen Fragen stellen muss, wenn sie das, was die Zeit an sie heranträgt, beantworten will. Tut sie dies nicht, wird sie ihrer Ver-Antwortung nicht gerecht, denn sie antwortet dem Leben nicht. Viele der Menschen, die zu uns kommen, suchen nämlich im Grunde nach einer neuen großen Erzählung, einer Erzählung, die ihnen eine Richtung für ihr Leben weist, indem sie dem, was ihnen widerfährt, einen sinnhaften Rahmen gibt.
Die Theologie kann diese Antwort nicht mehr geben, die Philosophie auch nicht, denn die Vernunft ist genauso tot wie Gott. Was bleibt, ist die Psychologie. Allerdings keine „wissenschaftliche“ Psychologie, keine, die dem Vorbild der Naturwissenschaft nacheifert, denn Wissenschaft kann keine Sinnfragen beantworten.