Die Welt, in der wir leben. Wilfried Nelles
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In den meisten Fällen kommt es aber mit einem Geschlechtsakt nicht zur Empfängnis, es braucht dazu viele. Auch ohne Empfängnisverhütung sind also nicht etwa Millionen, sondern Milliarden Spermien im Laufe eines normalen Ehelebens unterwegs, um einige wenige Kinder zu zeugen. Aber selbst wenn es nur tausend wären: Wer wählt da, wer bestimmt da, welches Spermium auf welches Ei trifft und sich damit vereint? Niemand! Unsere Eltern sind nicht unser Ursprung, unser Ursprung ist das Leben selbst.
Die Eltern sind alternativlos
Die Mutter ist der Ort, in dem sich dieses aus sich selbst heraus entstandene Leben niederlässt, nachdem es im Moment der Vereinigung der väterlichen und mütterlichen Zelle seine Form angenommen hat. Diese Form (aber eben nicht unsere Essenz!) besteht aus einer einmaligen Kombination der mütterlichen und väterlichen Gene, und zwar zu jeweils 50 Prozent. In diesem (dem physischen) Sinne sind wir unsere Eltern, und zwar ausschließlich unsere biologischen Eltern. Auch hier: keine Wahl, keine Alternative. Die (durchaus verbreitete) Vorstellung etwa, man hätte die falschen Eltern (oder, auch das ist eine moderne Idee, man könne sich seine Eltern selbst wählen), ist vollkommen abwegig. Es gibt keine anderen Eltern als die beiden Menschen, die uns gezeugt haben. Punkt.23 Und: Mit anderen Eltern wäre ich jemand anders. Also kann „ich“, der Mensch, der ich bin, absolut keine anderen Eltern haben.
Den Menschen, der ich bin, gibt es nur, weil ich genau diese Eltern habe. Der Wunsch nach anderen („besseren“) Eltern ist nicht nur illusorisch, er verneint auch die eigene Existenz, er will sich selbst nicht so haben, wie man ist. Damit ist er der Vater aller Selbstentzweiung. Das gilt für beide Eltern, auch den Vater. Wer immer der Vater war oder ist, wie immer die Zeugung vor sich gegangen ist: wir sind (genetisch) zu 50 Prozent unser Vater. Und weiter: Es gibt mich nur, weil ich zu jenem bestimmten Zeitpunkt gezeugt und an jenem bestimmten Ort zu jener bestimmten Zeit auf jene bestimmte Weise geboren bin. Das alles ist einfach nur geschehen, ohne bestimmten Grund, ohne dass irgendjemandes Absichten, Wünsche und Pläne eine Rolle gespielt hätten.
Die Mutter als Erde des Menschen
Der Vorgang der Einbettung dieser ursprünglichen Form des Lebens (des Embryos) in der Mutter zeigt deren vorrangige Bedeutung für unsere weitere Entwicklung, denn sie ist nun unser Nährboden und unsere Welt. Die in sich vollständige, aber noch gänzlich verschlossene Form des Kindes wird sich dort, in der Mutter, über etwa neun Monate hin aus- und entwickeln und gemäß der in ihr enthaltenen Anlagen und der Bedingungen, die ihre Umwelt (also die Mutter) bereitstellt, sowie der Einflüsse, die auf die Mutter selbst einwirken und die sie – wiederum ganz unabhängig von ihrem Wollen – an den Embryo weitergibt, wachsen.
Wir haben also drei Faktoren, die in der Entwicklung des Kindes bereits im Mutterleib zusammenkommen:
.erstens die Erbanlagen; dazu gehören auch die Familiengeschichten der Eltern;
.zweitens die von der Mutter ausgehenden und von außen auf sie einwirkenden Umweltbedingungen;
.und schließlich und als Wichtigstes das Dritte, unsere geistige Essenz, das, was wir wirklich sind und tief im Innern als unser Eigenes empfinden. Dieses Dritte ist das, was Menschen, die sich als (spirituelle) Sucher empfinden, aber auch jene, die auf andere Weise nach dem Sinn ihres Lebens fragen, tatsächlich suchen. Es ist das, was unsere tiefste Sehnsucht ausmacht.
Solange das Kind in der Mutter ist, ist diese die ganze und einzige Welt des Kindes, sie atmet für das Kind, isst und trinkt für das Kind, sie ist im wahrsten Sinne des Wortes dessen Ein und Alles. Wenn im Schlager die Einheit mit der Geliebten besungen wir – „Du bist die Welt für mich“, „You’re my world, you’re ev’ry night and day, You’re my world you’re ev’ry pray I pray“ – dann geht es tatsächlich um die verlorene Einheit mit der Mutter. Die schönsten und in der Interpretation einzigartigen Liebeslieder von Elvis Presley besingen tatsächlich seine Liebe zu seiner Mutter – und vielleicht, ganz unbewusst, die Sehnsucht nach seinem tot geborenen Zwillingsbruder; Ähnliches gilt für John Lennon, der seine Mutter früh verloren hat. Wer die Verschmelzung mit dem Geliebten als Partnerschaftsideal hat oder meint, seinen Seelenpartner suchen und finden zu müssen, träumt in Wahrheit von der Symbiose mit der Mutter. Dasselbe gilt für jene, die die Einheit mit der Natur suchen. Diese Einheit ist mit der Geburt des Menschen, mit der Entstehung des menschlichen Bewusstseins, vorbei, unwiederbringlich. Die Geburt (Entstehung) des Menschen ist die Trennung von der Natur, wir sind nur deshalb Menschen, weil wir der Natur entrissen, weil wir keine bloßen Naturwesen mehr sind. Ich greife das im nächsten Kapitel wieder auf.
Das Kind wächst und entwickelt sich in der Einheit, Mutter und Kind sind noch nicht zwei. Man kann auch sagen: Zwischen Mutter und Kind herrscht keine Beziehung und Kommunikation, sondern die ursprüngliche Kommunion. Vielleicht ist das das Urbild der Heiligen Kommunion der Katholiken, nur dass es sich bei der Kommunion mit der Mutter um die ursprüngliche, natürliche Kommunion, bei der mit Jesus Christus um die geistige Kommunion, die Vereinigung mit dem Geist (Gott) handelt. Erst mit der Geburt ändert sich dieser Zustand, erst jetzt hat das Kind einen eigenen, unabhängigen Kreislauf, ist von der Mutter getrennt und kann, zunächst ganz undeutlich und ganz allmählich, beginnen, diese von außen wahrzunehmen und damit auch sich selbst als etwas Eigenes zu empfinden.
Geburt – Die erste Trennung
Mit der Geburt ist die Einheit vorbei, Mutter und Kind werden getrennt. Körperlich ist das der Beginn der zweiten Lebensstufe, der Kindheit. Im Lebensintegrationsprozess sehen wir jedoch, dass die zur Geburt gehörenden seelischen Prozesse regelmäßig in der ersten Bewusstseinsstufe auftauchen. Zwischen dem körperlichen Leben und dem entsprechenden Bewusstsein gibt es eine zeitliche Differenz, die neue Lebenswelt tritt erst ganz allmählich ins Bewusstsein des Kindes. Psychisch besteht die Einheit mit der Mutter noch eine gewisse Zeit lang fort. Erich Neumann sieht sogar das gesamte erste Lebensjahr als eine „nachgeburtliche Embryonalzeit“, die dem Menschen (im Gegensatz zu anderen Säugetieren) eigen ist24. Deshalb behandle ich das Thema sowohl bei der Stufe 1 als auch später, wenn ich über die Kindheit schreibe. Hier geht es mir mehr um den Vorgang der Geburt und darum, wie dieser sich im Bewusstsein niederschlägt, später mehr darum, wie das Kind nach der Geburt in die neue Welt hineinwächst.
Die psychologische Sicht ändert nichts daran, dass die faktische Trennung mit der Geburt bereits erfolgt ist, auch wenn das Bewusstsein (die Seele) des Kindes dies noch nicht realisiert hat. Es hat sich nämlich etwas ganz Entscheidendes verändert: Es kann ohne die Mutter überleben. Vor der Geburt ist dies anders, wenn die Mutter stirbt, stirbt auch das Kind. Die faktische Symbiose endet mit der Geburt. Und damit „stirbt“ auch der Embryo (oder der Fötus) als ein Wesen, das in seiner gesamten Existenz in ein anderes Wesen (die Mutter) eingelassen ist und (ausschließlich) von diesem lebt, und das Kind als eigenständiges Wesen entsteht.
Die Geburt tritt ein, wenn der menschliche Körper sich so weit entwickelt hat, dass er eigenständig funktionieren kann. Sie tritt nicht ein (wenigstens nicht auf natürlichem Wege), wenn die Mutter oder das Kind das will! Hier zeigt sich dasselbe, was ich bereits über die Empfängnis gesagt habe: Unsere Geburt (unser Leben) ist nicht ein Ergebnis eines Wollens oder einer Entscheidung, sondern etwas, was vollkommen