Metamorphosen. Ovid
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»Nymphe, Penëustochter, bitte, bleib stehn! Ich folge dir nicht als Feind. [505] Nymphe, bleib stehn! So flieht das Lamm vor dem Wolf, die Hirschkuh vor dem Löwen, so fliehen vor dem Adler die Tauben mit ängstlich schlagenden Flügeln – ein jedes vor seinem Feind; Liebe ist der Grund, warum ich dich verfolge. Weh mir! Stürz nicht vornüber und laß die Dornen nicht deine Schenkel ritzen, die keine Verwundung verdienen. Ich will dir keinen Schmerz zufügen. [510] Die Gegend, durch die du dahineilst, ist rauh. Lauf, bitte, langsamer und zügle deine Flucht! Dann werde ich dich langsamer verfolgen. Frag wenigstens, wessen Wohlgefallen du erregst! Kein Bergbewohner, kein Hirte bin ich, kein struppiger Wächter von Zug- und Herdentieren. Du weißt nicht, Unbesonnene, du weißt nicht, [515] vor wem du fliehst. Und nur darum fliehst du. Mir dient das delphische Land, Claros, Tenedos und die patareische Königsburg. Iuppiter ist mein Vater. Ich offenbare, was sein wird, was war und was ist; ich lasse Gesang und Saitenspiel harmonisch zusammenstimmen. Mein Pfeil trifft zwar ins Ziel, doch gibt es einen Pfeil, [520] der noch genauer ins Ziel geht; der hat meinem noch freien Herzen eine Wunde geschlagen! Die Heilkunst ist meine Erfindung, die Welt nennt mich den Heilbringer, und die Kraft der Kräuter steht mir zu Gebote. Weh mir, daß gegen die Liebe kein Kraut gewachsen ist und daß die Künste, die allen nützen, ihrem Herrn und Meister keinen Nutzen bringen!«
[525] Er wollte noch mehr sagen, doch die Tochter des Penëus entfloh ihm in angstvollem Lauf, ließ ihn hinter sich und mit ihm seine Rede, mit der er noch nicht zu Ende war. Auch in diesem Augenblick sah sie reizend aus. Windstöße entblößten ihren Körper, der entgegenkommende Luftzug ließ die Kleider, auf die er traf, flattern, ein leichtes Lüftchen ließ das Haar nach hinten wehen, [530] und die Schönheit steigerte sich durch die Flucht. Doch der jugendliche Gott erträgt es nicht länger, Schmeichelworte zu verschwenden. Und wie Amor selbst es ihm eingab, folgt er mit beschleunigtem Schritt ihren Spuren. Wie wenn ein Jagdhund aus Gallien auf dem offenen Feld einen Hasen erspäht hat und der eine nach seiner Beute, der andere um sein Leben rennt [535] – der eine sieht aus, als wolle er schon zubeißen, hofft von einem Augenblick zum andern zuzupacken und streift mit vorgestreckter Schnauze die Fersen der Beute; der andere ist sich im Zweifel, ob er schon gefangen ist, entzieht sich gerade noch den zuschnappenden Zähnen und läßt das Maul, das ihn schon berührt, hinter sich –: So erging es dem Gott und der Jungfrau; den einen beflügelt die Hoffnung, die andere die Furcht. [540] Doch der Verfolger, dem Amor Schwung verleiht, ist schneller und gönnt ihr keine Rast. Die Fliehende spürt ihn schon unmittelbar im Rücken, und sein Hauch streift ihr Haar, das ihr in den Nacken fällt. Schließlich versagten ihr die Kräfte, sie erblaßte, von der Mühe der raschen Flucht erschöpft, und blickte zu den Wassern des Penëus. [545] »Vater, komm mir zu Hilfe«, sprach sie, »sofern ihr Flüsse göttliche Macht besitzt! Zerstöre durch eine Verwandlung diese Gestalt, in der ich allzusehr gefiel!« Kaum hat sie ihr Gebet beendet, da kommt über ihre Glieder eine lastende Starre. Um die zarte Brust legt sich dünner Bast. [550] Das Haar wächst sich zu Laub aus, die Arme zu Ästen; der eben noch so flinke Fuß haftet an zähen Wurzeln, das Gesicht hat der Wipfel verschlungen: Allein der Glanz bleibt ihr. Auch so liebt Phoebus sie noch. Er legt die rechte Hand an den Stamm und fühlt noch, wie die Brust unter der frischen Rinde bebt, [555] umschlingt mit den Armen die Äste, als wären es Glieder, küßt das Holz – doch das Holz weicht den Küssen aus. Zu ihr sprach der Gott: »Da du nicht meine Gemahlin sein kannst, wirst du wenigstens mein Baum sein. Stets werden mein Haupthaar, mein Saitenspiel, mein Köcher dich tragen, Lorbeer! [560] Du wirst den latinischen Feldherrn nahe sein, wenn frohe Stimmen das Triumphlied singen und das Capitol den langen Festzug sieht. Du wirst auch als treue Wächterin der Türpfosten am Hause des Augustus vor dem Eingang stehen und den Eichenkranz, der in der Mitte hängt, beschützen. Und wie mein Haupt im ungeschorenen Haarschmuck stets jugendlich ist, [565] so trag auch du fortwährend als Ehrenschmuck dein Laub.« Paean war zu Ende; der Lorbeer nickte mit den neuentstandenen Ästen und schien den Wipfel wie ein Haupt zu bewegen.
Iuppiter und Io (I)
In Haemonien liegt ein Hain, rings von bewaldeten Steilhängen umschlossen; er heißt Tempe. Durch dieses Tal wälzt der Penëus, [570] der tief im Pindus entspringt, seine schäumenden Wellen, und in wuchtigem Absturz ballt er Wolken zusammen, von denen zarte Nebelschleier flattern; den Gischt läßt er auf die Wipfel des Waldes regnen, und sein Getöse ermüdet nicht nur die Nachbarschaft.
Dies ist das Haus, dies der Wohnsitz, dies sind die Gemächer des großen Stromes; [575] hier thronte er in einer Felsengrotte und sprach Recht über Wellen und Nymphen, die sie bewohnten. Dort kommen zuerst die Flüsse der Gegend zusammen, ohne so recht zu wissen, ob sie den Vater beglückwünschen oder ihm Trostworte zusprechen sollen: Spercheus, von Pappeln umsäumt, der rastlose Enipeus, [580] der altersgraue Apidanus, der sanfte Amphrysus und Aeas; bald kamen noch andere Flüsse, die, vom Schwung fortgetragen, ihre Wogen, der Irrwege müde, ins Meer münden lassen.
Nur Inachus fehlt. Tief unten in seiner Höhle versteckt, vermehrt er sein Wasser durch Tränen und trauert – der Ärmste! – um seine Tochter Io, [585] als hätte er sie verloren. Er weiß nicht, ob sie noch am Leben ist oder schon unter den Toten weilt; doch, da er sie nirgendwo findet, glaubt er, sie sei nirgends, und befürchtet im Herzen das Schlimmste.
Iuppiter