LTI. Victor Klemperer
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Der Wille zur Tradition wiederum tritt hervor, wo er sich bei Straßenbenennungen deutschtümelnd betätigen kann. Die ältesten und unbekanntesten Ratsherren und Bürgermeister werden ausgegraben und schulmeisterlich genau an die Straßenschilder geschrieben. Auf der Südhöhe hier in Dresden heißt eine neuangelegte Straße Tirmannstraße, und unter dem Namen steht: »Magister Nikolaus Tirmann, Bürgermeister, gestorben 1437«, und ähnlich liest man auf anderen Straßenschildern der Vororte: »Ratsherr im 14. Jahrhundert« oder »Schreiber einer Stadtchronik im 15. Jahrhundert« … War Joseph ein zu katholischer Name, oder wollte man nur Platz schaffen für einen romantischen und somit betont deutschen Maler? Jedenfalls wurde die Josephstraße in Dresden zur Caspar-David-Friedrich-Straße, trotzdem dies eine mehr als halbe postalische Unmöglichkeit ergab: als wir in einem Judenhaus dieser Straße wohnten, bekamen wir wiederholt Briefe mit der Anschrift: Friedrichstraße bei Herrn Caspar David.
[97]Eine Mischung aus Liebe zu mittelalterlicher Zunft- und Ständeordnung und zu moderner Reklame spricht aus den Poststempeln, in denen Städte einen spezialisierenden Zusatz erhalten. »Messestadt Leipzig« ist alt und keine nazistische Erfindung, aber nazistisch neu ist der Stempel: »Cleve, Werkstatt der guten Kinderschuhe«. In meinem Tagebuch notierte ich: »Stadt des Volkswagenwerks bei Fallersleben«, wo denn der Stempel neben Berufsständischem und industrieller Reklame einen deutlich politischen Sinn birgt: er hebt eine besondere industrielle Siedlung heraus, eine betrügerische Lieblingsgründung des Führers; denn was als verheißender Volkswagen das Geld der kleinen Leute anlockte, war in Wahrheit von Anfang an als Kriegswagen geplant. Unverhüllt politisch und rein propagandistisch waren die Ruhmesstempel: »München, die Stadt der Bewegung«, und »Nürnberg, die Stadt der Parteitage«.
Nürnberg lag im »Traditionsgau«, womit man wohl ausdrücken wollte, daß die ruhmreichen Anfänge des Nationalsozialismus gerade in diesem Bezirk zu suchen waren. »Gau« für Provinz ist wieder ein Anknüpfen ans Teutschtum, und indem man dem »Warthegau« rein polnische Gebietsstücke eingliederte, legalisierte man den Raub fremden Landes durch deutsche Namengebung. Ähnlich lag es mit der Bezeichnung Mark für Grenzland. Ostmark: das zog Österreich zu Großdeutschland, Westmark: das gliederte Holland an. Schamloser noch spreizte sich der Erobererwille, wenn Lodz, das polnische, den eigenen Namen verlor und nach seinem Eroberer im ersten Weltkrieg in Litzmannstadt umgewandelt wurde.
Doch indem ich diesen Namen schreibe, sehe ich einen besonderen Stempel vor mir: Litzmannstadt-Getto. Und nun drängen sich Namen vor, die in die Höllengeographie der Weltgeschichte eingegangen sind: Theresienstadt und Buchenwald und Auschwitz usw. Und daneben taucht ein Name auf, den die wenigsten kennen werden – er ging nur uns Dresdener an, und die er am nächsten anging, sind alle verschwunden. Judenlager Hellerberg: dort brachte man in elenden Baracken, elenderen als den für die russischen Gefangenen bestimmten, den zusammengeschmolzenen Rest der [98]Dresdener Juden im Herbst 1942 unter, von dort aus wurde er wenige Wochen später in den Auschwitzer Gastod geschickt; nur wir paar in Mischehe Lebenden blieben zurück.
Da bin ich doch wieder beim jüdischen Thema angelangt. Ist es meine Schuld? Nein, es ist die Schuld des Nazismus, und nur dessen Schuld.
Aber wenn ich nun schon ins (sozusagen) Lokalpatriotische geraten bin, nachdem ich mich innerhalb des großen, wahrhaftig zu einer Doktordissertation ausreichenden Themas bei bloßen Zufallsnotizen und Andeutungen begnügen mußte – vielleicht gibt es eine Postdirektion, die das Material vervollständigen könnte –, dann will ich doch auch eine kleine Urkundenfälschung berichten, die mich persönlich angeht, die an meiner Lebensrettung mitgeholfen hat. Ich bin ja gewiß, daß mein Fall nicht der einzige sein wird. Die LTI war eine Gefängnissprache (der Gefangenenwärter und der Gefangenen), und zur Sprache der Gefängnisse gehören unweigerlich (als Akte der Notwehr) die Versteckworte, die irreführenden Mehrdeutigkeiten, die Fälschungen, usw., usw.
Waldmann war besser daran als wir, nachdem man uns aus der Dresdener Vernichtung heraus gerettet und in den Fliegerhorst Klotzsche gebracht hatte. Wir hatten den Judenstern heruntergerissen, wir hatten das Weichbild Dresdens verlassen, wir hatten mit Ariern zusammen im Innern eines Wagens gesessen, kurzum: wir hatten ein ganzes Büschel von Todsünden begangen, deren jede uns den Tod eintragen mußte, den Tod am Galgen, wenn wir der Gestapo in die Hände fielen. »Im Dresdener Adreßbuch«, sagte Waldmann, »stehen acht Waldmanns, und ich bin der einzige Jude unter ihnen – wem soll mein Name auffallen?« Aber mit dem meinen war es eine andere Sache. Jenseits der böhmischen Grenze ein verbreiteter Judenname – Klemperer hat nichts mit dem Klempnerhandwerk zu tun, es bedeutet den Klopfer, den Gemeindediener, der morgens an die Türen oder Fenster der Frommen klopft und sie zum Frühgebet weckt –, war er in Dresden nur durch ganz wenige wohlbekannte Exemplare vertreten, und ich war der einzige nach so vielen Schreckensjahren dort Übriggebliebene. Der [99]angebliche Verlust sämtlicher Papiere konnte mich verdächtig machen, und um den Verkehr mit Behörden ließ sich auf die Dauer nicht herumkommen: wir brauchten Lebensmittelkarten, brauchten Fahrkarten – wir waren noch sehr kultiviert, wir glaubten noch an die Notwendigkeit solcher Karten … Fast gleichzeitig erinnerten wir uns eines Apothekerfläschchens für mich. Das Rezept, ärztlich hingekritzelt, hatte meinen Namen an zwei leicht zu verändernden Stellen gänzlich verändert. Ein Punkt genügte, um aus dem »m« ein »in« zu machen, und ein Millimeterstrich verwandelte das erste »r« in ein »t«. So wurde aus Klemperer: Kleinpeter. Eine Poststelle, die die Menge solcher Kleinpeter im Dritten Reich registriert hätte, dürfte es kaum geben.
[100]XIV Kohlenklau
Im Frühjahr 1943 schickte mich das Arbeitsamt als ungelernten Hilfsarbeiter in die Tee- und Heilbäderfabrik Willy Schlüter, die durch Heeresaufträge zu großem Umfang angeschwollen war. Erst wurde ich als Packer beschäftigt, der den fertigen Tee in Kartons zu füllen hatte – eine äußerst eintönige, aber körperlich ganz leichte Arbeit; sie wurde denn auch bald den Frauen allein überlassen, und ich kam in die eigentlichen Fabrikationsräume, zu den Mischtrommeln und den Schneidemaschinen; strömte gerade viel neuer Rohstoff heran, so mußte die Judengruppe auch beim Abladen und Einlagern helfen. Mit dem Schlütertee – mit wohl allen Ersatztees damals – verhielt es sich wie mit irgendeinem Regiment: nur der Name blieb sich dauernd gleich, während der Inhalt ständig wechselte; man stopfte hinein, was sich gerade auftreiben ließ.
An einem Nachmittag im Mai stand ich in dem hohen und luftigen Keller, der sich als einheitlicher Raum unter einem ganzen Gebäudeflügel hinzog. Bis auf wenige Nischen