LTI. Victor Klemperer
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Die Plakate der Nazis sahen sich ja sonst immer gleich. Immer bekam man den gleichen Typ des brutalen und verbissen gestrafften Kämpfers vorgesetzt, mit Fahne oder Flinte oder Schwert, in SA- oder SS- oder Felduniform, oder auch nackt; immer war der Ausdruck der physischen Kraft, des fanatisierten Willens, immer waren Muskeln, Härte und zweifelloses Fehlen alles Denkens die Charakteristika dieser Werbungen für Sport und Krieg und Unterwerfung unter den Führerwillen. »Wir sind die Leibeigenen des Führers!« hatte gleich nach Hitlers Regierungsantritt ein Studienrat vor Dresdener Philologen pathetisch ausgerufen; das Wort schrie mir seitdem aus all den vielen Plakaten und Sondermarken des Dritten Reiches entgegen; und waren Frauen dargestellt, so hatte man es eben mit den nordischen Heldenweibern dieser nordischen Heldenmänner zu tun. Es war wirklich verzeihlich, wenn ich nur noch flüchtig auf Plakate achtete, zumal ich ja, seit ich den Stern trug, immer das Bestreben hatte, so rasch als möglich von der Straße zu kommen, wo ich nie vor Beschimpfungen, nie vor den noch peinlicheren Sympathiekundgebungen sicher war. All diese armselig heroischen Plakate transponierten nur die [102]monotonsten Stellen der monotonen LTI ins Graphische, ohne ihr von sich aus Bereicherung zu schenken. Es gab auch nirgends ein enges Zusammenwachsen, ein gegenseitiges Sichheben zwischen graphischer Darstellung und Umschrift dieser zu Dutzenden auftretenden Zeichnungen. »Führer, befiehl, wir folgen!«, oder: »Mit unsern Fahnen ist der Sieg!« prägte sich auch als bloßes Spruchband, als Phrase an sich ein, und es war mir kein Fall bekannt, wo ein Spruch oder Wort und eine Graphik derart zusammengehörten, daß sie sich wechselseitig evozierten. Ich hatte auch noch nie beobachtet, daß eine Plakatgestalt des Dritten Reiches so ins Leben übergriff, wie sich hier der Kohlenklau, Wort und Bild in einem, des Alltags einer ganzen Belegschaft bemächtigte.
Ich sah mir daraufhin dies Plakat genau an: wirklich, es bot Neues, es war ein Stück Märchen, ein Stück Gespensterballade, es wandte sich an die Phantasie. In Versailles gibt es einen Brunnen, der von den Metamorphosen Ovids inspiriert ist: die über den Brunnenrand schlüpfenden Gestalten sind zur Hälfte von der Wirkung der Magie erfaßt, ihre menschliche Gestalt beginnt in tierischer Form zu verschwinden. Ganz so ist Kohlenklau geformt; die Füße sind schon in fast amphibischem Zustand, der Rockzipfel scheint ein Schwanzstummel, und die Haltung des davonschleichenden Diebes nähert sich in ihrer Gebücktheit schon der des Vierfüßlers. Zur Märchenwirkung des Bildes trat die glückliche Namenwahl: burschikos volkstümlich und dem Alltag angehörig durch den »Klau« statt des Diebes, wiederum durch die kühne Substantivbildung (vergleiche den Fürsprech!) und die Alliteration deutlich dem Alltag enthoben und poetisiert. Bild und Wort gruben sich in solcher Zusammengehörigkeit ins Gedächtnis wie Wort und Sonderzeichen der SS.
Man hat nachher noch ein paarmal versucht, auf ähnliche Weise zu wirken, aber man hat die gleiche Wirkung nicht wieder erreicht. Da war für irgendwelche Vergeudung – und es ist bezeichnend, daß ich schon nicht mehr weiß, für welche – das Groschengrab; gute Alliteration, aber das Wort weniger saftig als Kohlenklau und die Zeichnung weniger fesselnd. Und dann gab es ein triefendes [103]Frostgespenst, das verderbendrohend zum Fenster einstieg, aber hier fehlte das einprägsame Wort. Am nächsten dem Kohlenklau ist wohl der schattenhaft unheimlich schleichende Lauscher gekommen, dessen warnende Gestalt monatelang in Zeitungsecken, an Schaufenstern, auf Streichhölzerschachteln zur Vorsicht vor Spionen mahnte. Aber der dazugehörige Spruch »Feind hört mit«, dem deutschen Ohr befremdlich durch den Amerikanismus des fortgelassenen Artikels, war beim Auftauchen des gespenstischen Mannes bereits abgegriffen; man hatte diese Worte schon wiederholt unter allerhand sozusagen novellistischen Bildern gefunden, wo der böse Feind etwa im Caféhaus hinter einer Zeitung hervor auf ein unvorsichtiges Gespräch am Nebentisch spannte.
Kohlenklaus unmittelbare Wirkung spricht aus einigen Kopien und Varianten: es gab nachher einen »Stundenklau«, es gab ein Räumboot, das sich »Minenklau« nannte, es gab im »Reich« ein gegen die sowjetrussische Politik gerichtetes Bild mit der Unterschrift »Polenklau« … Den unveränderten Kohlenklau sah man im Rahmen eines Handspiegels wieder; darunter stand: »Halt dir den Spiegel vors Gesicht: Bist du’s, oder bist du’s nicht?« Und häufig, wenn jemand die Tür eines geheizten Zimmers offen ließ, rief einer: »Kohlenklau kommt!«
Aber viel stärker als dies alles, den Spitznamen des Hausdieners Otto mit einbegriffen, spricht für die besondere Wirkung gerade dieses Plakates unter den übervielen anderen eine kleine Szene, die ich 1944 auf der Straße beobachtete, zu einer Zeit also, als der Kohlenklau nicht mehr zu den neuen und aktuellsten Bildern gehörte. Eine junge Frau kämpfte vergeblich mit ihrem störrischen kleinen Jungen. Der Bengel riß sich immer wieder von ihrer Hand los, blieb heulend stehen, wollte nicht weiter. Da ging ein älterer gesetzter Herr, der das ebenso wie ich mitangesehen hatte, auf den Kleinen zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte mit ruhigem Ernst: »Willst du jetzt, ja oder nein, artig bei deiner Mutter bleiben und ihr nach Hause folgen? Wenn nein, dann bringe ich dich zum Kohlenklau!« Der Junge sah den Herrn einen Augenblick lang entsetzt an. Dann brach er in ein lautes Angstgeheul aus, [104]lief zur Mutter, klammerte sich an ihren Rock und schrie: »Mutti, nach Hause! Mutti, nach Hause!«
Es gibt eine sehr nachdenkliche Geschichte von Anatole France, ich glaube, sie heißt »Gärtner Putois«. Putois wird den Kindern einer Familie als bedrohlich, als schwarzer Mann hingestellt, er prägt sich in dieser Eigenschaft ihrer Phantasie ein, er wird in die Pädagogik der nächsten Generation eingebaut, er wächst sich zum Familiengott, zu einer Gottheit schlechthin aus.
Kohlenklau, aus Bild und Wort entstanden, hätte bei längerem Bestehen des Dritten Reiches alle Chancen gehabt, wie Putois eine mythische Person zu werden.
[105]XV Knif
»Knif« habe ich schon zwei Jahre vor dem Kriege das erstemal gehört. Berthold M., der gekommen war, seine letzten hiesigen Geschäfte abzuwickeln, bevor er nach Amerika hinüberging – (»Wozu soll ich mich hier langsam abwürgen lassen? In ein paar Jahren sehen wir uns wieder!«) –, Berthold M. sagte es auf meine Frage, ob er an die ständige Dauer des Régimes glaube: »Knif!« Und indem der etwas gespielte spöttische Gleichmut nun doch in Erbitterung überging, die ihrerseits wiederum verborgen werden mußte, denn so erforderte es das Berliner Bushido, setzte er mit energischerer Betonung hinzu: »Kakfif!« Ich sah ihn fragend an, und er erklärte