LTI. Victor Klemperer

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LTI - Victor Klemperer Reclam Taschenbuch

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daß sich die Kurve des aufsteigenden Rauches, aus den entsprechenden Buchstaben gebildet, an die gerade Linie des Wortes Zigarre anschließt.

      Innerhalb der LTI bedeutet mir die zackige Sonderform des SS das Bindeglied zwischen der Bildsprache des Plakats und der Sprache im engeren Sinn. Es gibt noch ein anderes Bindeglied derselben Art: das ist die ebenfalls zackig gezeichnete aufrechte und zu Boden gekehrte Fackel, die Rune des Blühens und Welkens. Als Sinnbild des Vergehens diente sie nur an Stelle des christlichen Kreuzes bei Todesanzeigen, während sie, aufwärts gerichtet, nicht bloß den Stern der Geburtsanzeige ersetzte, sondern auch im Stempel der Apotheker und der Brotbäcker Verwendung fand. Man sollte annehmen, daß diese zwei Runen sich genau so eingebürgert hätten [84]wie das SS-Zeichen, da sie ja ebenfalls durch die beiden Tendenzen zu Sinnlichkeit und Teutschtum gefördert wurden. Das ist aber durchaus nicht der Fall.

      Ich habe mir einige Male, jeweils ein paar Wochen lang, statistische Notizen darüber gemacht, in welchem Verhältnis die Verwendung der Runenzeichen zu der von Stern und Kreuz stand. Ich sah regelmäßig (obwohl wir sie nicht halten und nicht im Zimmer haben durften, aber von irgendwoher drang sie doch immer ins Judenhaus) eine der neutralen Dresdener Zeitungen – neutral, soweit das ein Blatt sein konnte, neutral also nur im Vergleich zu einer ausgesprochenen Parteizeitung –, und ich sah ziemlich oft den »Freiheitskampf«, das Dresdener Parteiblatt, dazu die »DAZ«, die ein etwas höheres Niveau behaupten mußte, da sie, besonders nach dem Verstummen der »Frankfurter Zeitung«, vor dem Ausland zu repräsentieren hatte. Es war zu berücksichtigen, daß die Runen in dem eigentlichen Parteiblatt häufiger auftreten würden als in den anderen Zeitungen, es war auch zu berücksichtigen, daß die »DAZ« häufig den spezifisch christlichen Kreisen als Anzeigenblatt diente. Dennoch war das Runenplus des »Freiheitskampfes« den anderen Blättern gegenüber kein sonderlich großes. Das Höchstmaß der Runen wurde wohl nach den ersten schweren Niederlagen, insbesondere nach Stalingrad, erreicht, denn damals übte die Partei einen erhöhten Druck auf die öffentliche Meinung aus. Aber auch damals betrug bei etwa zwei Dutzend täglicher Gefallenenanzeigen die Zahl der mit den Runen beschrifteten höchstens die Hälfte, sehr oft kaum ein Drittel. Dabei fiel es mir immer wieder auf, daß häufig gerade die Anzeigen, die sich im übrigen am nazistischsten gebärdeten, an Stern und Kreuz festhielten. Bei den Geburtsanzeigen lag es ähnlich: kaum die Hälfte, oft sehr viel weniger, trugen die Rune, und die nazistischsten – denn es gab für die Familienanzeigen eine ganze LTI-Stilistik –, gerade sie ließen die Runen häufig vermissen.

      Der Grund für dieses Nichtdurchdringen, Nichtaufgefaßtwerden der positiven und negativen Lebensrune, wo doch das SS-Bild sich restlos durchsetzte, ist ohne weiteres anzugeben. SS war eine [85]durchaus neue Bezeichnung für eine durchaus neue Institution, SS hatte nichts zu verdrängen. Für Geburt und Tod dagegen, für diese ältesten und unwandelbarsten Institutionen der Menschheit, bilden Stern und Kreuz seit bald zwei Jahrtausenden die Zeichen. So waren sie zu tief in die Vorstellung des Volkes eingewachsen, als daß sie völlig hätten entwurzelt werden können. – –

      Aber wenn sie nun doch durchgedrungen und während der Hitlerzeit alleinherrschend gewesen wären, diese Lebensrunen – wäre ich um die Begründung des Faktums in Verlegenheit gewesen? Bestimmt keinen Augenblick! Sondern auch dann hätte ich leichthin und mit ebenso gutem Gewissen wie vorhin geschrieben, es sei ohne weiteres einzusehen, daß dies so kommen mußte. Denn die Gesamttendenz der LTI strebe nach Versinnlichung, und wenn sich das Versinnlichen durch Anlehnung an germanische Tradition, durch ein Runenzeichen gewinnen lasse, so sei es doppelt willkommen. Und als zackiges Schriftbild gehöre die Lebensrune zum SS-Bild, und als weltanschauliches Symbol zu den Speichen des Sonnenrades, zum Hakenkreuz. Und also sei es aus dem Zusammenwirken all dieser Gründe die selbstverständlichste Sache der Welt, daß die Lebensrunen Kreuz und Stern gänzlich verdrängen mußten.

      Wenn ich aber von dem Nichteingetretenen mit gleich guten Gründen aussagen kann, daß es hätte eintreffen müssen, wie von dem tatsächlich Eingetretenen – was habe ich dann wirklich begründet und seines Geheimnisses entkleidet? Grenzverwischung, Unsicherheit, Schwanken und Zweifel auch hier. Position Montaignes: Que sais-je, was weiß ich? Position Renans: das Fragezeichen – wichtigstes aller Satzzeichen. Position des äußersten Gegensatzes zur nazistischen Sturheit und Selbstgewißheit.

      Zwischen beiden Extremen schwingt das Pendel der Menschheit und sucht die Mittellage. Es ist vor Hitler und während der Hitlerzeit bis zum Überdruß behauptet worden, daß aller Fortschritt den Sturen zu verdanken sei, daß alle Hemmung einzig von den Parteigängern des Fragezeichens herrühre. Ganz gewiß ist das nicht, aber ganz gewiß ist ein anderes: Blut klebt immer nur an den Händen der Sturen.

      [86]XII Interpunktion

      Bei einzelnen und bei Gruppen läßt sich bisweilen eine gewisse charakteristische Vorliebe für dies oder jenes Interpunktionszeichen beobachten. Gelehrte lieben das Semikolon; ihr logisches Bedürfnis verlangt nach einem Trennzeichen, das entschiedener als das Komma und doch nicht ganz so absolut abgrenzt wie der Punkt. Der Skeptiker Renan erklärt, man könne das Fragezeichen niemals zu oft anwenden. Der Sturm und Drang hat einen ungemeinen Bedarf an Ausrufezeichen. Der frühe Naturalismus in Deutschland bedient sich gern der Gedankenstriche: die Sätze, die Gedankenreihen sind nicht mit sorgfältiger Schreibtischlogik durchgeführt, sondern reißen ab, deuten an, bleiben unvollständig, haben ein flüchtiges, springendes, assoziatives Wesen, wie das dem Zustand ihres Entstehens, wie es einem inneren Monolog und auch einem erregten Gespräch, insbesondere zwischen denkungewohnten Menschen, entspricht.

      Man sollte annehmen, daß die LTI, da sie doch im Kern rhetorisch ist und sich immer wieder an das Gefühl wendet, ähnlich wie der Sturm und Drang dem Ausrufezeichen ergeben sein müßte. Das ist kaum auffällig; im Gegenteil, sie scheint mir ziemlich sparsam mit diesem Zeichen umzugehen. Es ist, als forme sie alles mit solcher Selbstverständlichkeit zu Anruf und Ausruf, daß sie dafür gar kein besonderes Interpunktionszeichen nötig habe – denn wo sind die schlichten Aussagen, von denen sich der Ausruf abheben müßte?

      Dagegen bedient sich die LTI bis zum Überdruß dessen, was ich die ironischen Anführungszeichen nennen möchte.

      Das einfache und primäre Anführungszeichen bedeutet nichts anderes als die wörtliche Wiedergabe dessen, was ein anderer gesagt oder geschrieben hat. Das ironische Anführungszeichen beschränkt sich nicht auf solch neutrales Zitieren, sondern setzt Zweifel in die Wahrheit des Zitierten, erklärt von sich aus den [87]mitgeteilten Ausspruch für Lüge. Indem das im Reden durch einen bloßen Zusatz von Hohn in der Stimme des Sprechers zum Ausdruck kommt, ist das ironische Anführungszeichen aufs engste mit dem rhetorischen Charakter der LTI verbunden.

      Erfunden worden ist es keineswegs von ihr. Als sich im ersten Weltkrieg die Deutschen ihrer überlegenen Kultur rühmten und auf die westliche Zivilisation herabsahen wie auf eine minderwertige und nur äußerliche Errungenschaft, ließen die Franzosen beim Erwähnen der »culture allemande« niemals die ironischen Gänsefüßchen fehlen, und wahrscheinlich hat es eine ironische Anwendung der Anführungszeichen neben ihrem neutralen Gebrauch gleich nach der Einführung dieses Zeichens gegeben.

      Aber in der LTI überwiegt der ironische Gebrauch den neutralen um das Vielfache. Weil eben Neutralität ihr zuwider ist, weil sie immer einen Gegner haben, immer den Gegner herabzerren muß. Wenn die spanischen Revolutionäre einen Sieg erfechten, wenn sie Offiziere, wenn sie einen Generalstab haben, so sind es unweigerlich »rote ›Siege‹«, »rote ›Offiziere‹«, ein »roter ›Generalstab‹«. Dasselbe ist später mit der »russischen ›Strategie‹« der Fall, dasselbe mit dem »›Marschall‹ Tito« der Jugoslawen. Chamberlain und Churchill

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