LTI. Victor Klemperer

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LTI - Victor Klemperer Reclam Taschenbuch

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er immer zu wechseln liebte –, Hitler sprach, vielmehr schrie immer krampfhaft. Man kann auch in stärkster Erregung eine gewisse Würde und innere Ruhe bewahren, eine Selbstgewißheit, ein Gefühl der Einigkeit mit sich und seiner Gemeinde. Das hat Hitler, dem bewußten, dem ausschließlichen, dem prinzipiellen Rhetor, von Anfang an gefehlt. Selbst im Triumph war er ungewiß, überbrüllte er [67]Gegner und gegnerische Ideen. Nie war Gleichmut, nie Musikalität in seiner Stimme, in der Rhythmik seiner Sätze, immer nur ein rohes Aufpeitschen der anderen und seiner selbst. Die Entwicklung, die er durchgemacht hat, ging nur, besonders in den Kriegsjahren, vom Hetzer zum Gehetzten, vom krampfhaften Eifern über Wut und ohnmächtige Wut zur Verzweiflung. Nie habe ich von mir aus verstanden, wie er mit seiner unmelodischen und überschrieenen Stimme, mit seinen grob, oft undeutsch gefügten Sätzen, mit der offenkundigen, dem deutschen Sprachcharakter völlig konträren Rhetorik seiner Reden die Masse gewinnen und auf entsetzlich lange Dauer fesseln und in Unterjochung halten konnte. Denn man schreibe noch so vieles aufs Konto des Weiterwirkens einer einmal vorhandenen Suggestion, und noch so vieles auf das Wirken skrupelloser Tyrannei und zitternder Angst – (»Eh ick mir hängen lasse, jloob ick an den Sieg«, war ein später Berliner Witz) –, so bleibt doch die ungeheure Tatsache, daß sich die Suggestion bilden und bei Millionen durch alle Schrecken bis zum letzten Augenblick andauern konnte.

      Weihnachten 1944, als die letzte deutsche Westoffensive schon gescheitert war, als am Ausgang des Krieges nicht der geringste Zweifel mehr herrschen konnte, als mir auf dem Weg zur Fabrik und nach Hause immer wieder entgegenkommende Arbeiter zuflüsterten, und manchmal gar nicht sehr leise flüsterten: »Kopf hoch, Kamerad! Es dauert nicht mehr lange …«, sprach ich mit einem Schicksalsgefährten über die mutmaßliche Stimmung im Lande. Es war ein Münchener Kaufmann, dem Wesen nach viel mehr Münchener als Jude, ein überlegender, skeptischer, ganz unromantischer Mensch. Ich erzählte von den häufigen Trostworten, denen ich begegnete. Er sagte, ihm gehe es genau so, aber darauf gebe er gar nichts. Die Menge schwöre nach wie vor auf den Führer. »Und wenn bei uns auch ein paar Prozent gegen ihn sein mögen: lassen Sie ihn hier eine einzige Rede halten, und alle gehören ihm wieder, alle! Ich habe ihn im Anfang, als ihn in Norddeutschland überhaupt noch niemand kannte, wiederholt in München sprechen hören. Niemand hat ihm widerstanden. Ich auch nicht. Man [68]kann ihm nicht widerstehen.« Ich fragte Stühler, worin denn diese Unwiderstehlichkeit wurzele. – »Das weiß ich nicht, aber man kann ihm nicht widerstehen«, war die sofortige und verbohrte Antwort.

      Und im April 1945, als für den Blindesten alles zu Ende war, als in dem bayrischen Dorf, in das wir geflohen waren, alles dem Führer fluchte, als die Kette der flüchtenden Soldaten nicht mehr abriß, da fand sich unter diesen Kriegsmüden und Enttäuschten und Verbitterten doch immer noch der eine und andere, der mit starren Augen und gläubigen Lippen versicherte, am 20. April, am Geburtstag des Führers, werde »die Wende«, werde die siegreiche deutsche Offensive kommen: der Führer habe es gesagt, und der Führer lüge nicht, ihm müsse man mehr glauben als allen Vernunftgründen.

      Wo liegt die Erklärung für dieses Wunder, das sich auf keine Weise abstreiten läßt? Es gibt eine verbreitete psychiatrische Begründung, der ich durchaus zustimme und die ich nur ergänzen möchte durch eine philologische.

      An jenem Abend der Königsberger Führerrede sagte mir ein Kollege, der Hitler wiederholt gesehen und gehört hatte, er sei davon überzeugt, daß der Mann in religiösem Irrsinn enden werde. Auch ich glaube, daß er sich wirklich für einen neuen deutschen Heiland zu halten bestrebt war, daß in ihm die Überspannung des Cäsarenwahns in ständigem Zwist mit Wahnideen des Verfolgtseins lag, wobei beide Krankheitszustände sich wechselseitig steigerten, und daß eben von solcher Krankheit her die Infektion auf den vom ersten Weltkrieg geschwächten und seelisch zerrütteten deutschen Volkskörper übergriff.

      Doch weiter glaube ich unter dem Gesichtspunkt des Philologen, daß Hitlers schamlos offene Rhetorik gerade deshalb so ungeheure Wirkung tun mußte, weil sie mit der Virulenz einer erstmalig auftretenden Seuche auf eine bisher von ihr verschonte Sprache eindrang, weil sie im Kern so undeutsch war wie der den Faschisten nachgeahmte Gruß, wie die dem Faschismus nachgeahmte Uniform – das Schwarzhemd durch ein Braunhemd zu ersetzen, [69]ist keine sehr originelle Erfindung –, wie der gesamte dekorative Schmuck der Massenveranstaltungen.

      Aber soviel auch der Nationalsozialismus von den ihm vorangegangenen zehn Jahren Faschismus gelernt hat, so vieles an ihm Infektion durch fremde Bakterien ist: im letzten war oder wurde er doch eine spezifisch deutsche Krankheit, eine wuchernde Entartung deutschen Fleisches, und durch Rückvergiftung von Deutschland her ist der an sich gewiß verbrecherische, aber doch nicht ganz so bestialische Faschismus gleichzeitig mit dem Nazismus zugrunde gegangen.

      [70]IX Fanatisch

      Als Student ärgerte ich mich einmal über einen Anglisten, der nachzählte, wie oft bei Shakespeare getrommelt, gepfiffen und sonstige kriegerische Musik gemacht werde. Ich nannte das in meinem Unverstand trockene Pedanterie … Und in meinen Tagebüchern der Hitlerzeit heißt es schon 1940: »Seminarthema: feststellen lassen, wie oft fanatisch und Fanatismus an offizieller Stelle gebraucht wird, wie oft auch in Publikationen, die unmittelbar nichts mit Politik zu tun haben, in neuen deutschen Romanen zum Beispiel oder in Übersetzungen aus fremden Sprachen.« Drei Jahre später greife ich mit einem Unmöglich! darauf zurück: »Der Gebrauch ist Legion, fanatisch kommt so häufig vor ›wie Töne im Saitenspiel, wie Sand am Meer‹. Wichtiger aber als die Häufigkeit ist der Wertwandel des Wortes. Ich habe schon einmal in meinem 18ième davon gesprochen, ich zitierte da eine so merkwürdige und wahrscheinlich von den wenigsten beachtete Rousseau-Stelle. Wenn nur das Manuskript überlebte …«

      Es hat überlebt.

      Fanatique und fanatisme sind Wörter, die von den französischen Aufklärern durchweg im äußersten Tadelssinn, und dies aus doppeltem Grund, angewandt werden. Ursprünglich – die Wurzel liegt in fanum, dem Heiligtum, dem Tempel – ist ein Fanatiker ein in religiöser Verzückung, in ekstatischen Krampfzuständen befindlicher Mensch. Da nun die Aufklärer gegen alles kämpfen, was zur Trübung oder Ausschaltung des Denkens führt, und da sie als Kirchenfeinde mit besonderer Erbitterung jeden religiösen Irrwahn befehden, so bedeutet ihrem Rationalismus der Fanatiker den eigentlichen Widerpart. Typus des fanatique ist ihnen Ravaillac, der eben aus religiösem Fanatismus den guten König Heinrich IV. ermordet. Wirft man von der Gegenseite her den Aufklärern ihrerseits Fanatismus vor, so bestreiten sie das, weil ja doch ihr eigenes Eifern nur ein mit den Mitteln der Vernunft geführter Kampf [71]gegen die Feinde der Vernunft sei. Wohin das Gedankengut der Aufklärung auch dringt, da überall wird mit dem Begriff des Fanatischen ein Gefühl der Abneigung, ein Tadel verbunden.

      Wie alle anderen Aufklärer, die als »Philosophen« und »Enzyklopädisten« seine Parteigenossen waren, ehe er als Einzelgänger sie zu hassen begann, genau so gebraucht auch Rousseau fanatisch im pejorativen Sinn. Im Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars heißt es vom Auftreten Christi unter den jüdischen Eiferern: »Im Schoße des wütendsten Fanatismus erklang die Stimme der höchsten Weisheit.«

      Aber gleich darauf, wenn der Vikar als Sprachrohr Jean-Jacques’ gegen die Unduldsamkeit der Enzyklopädisten fast noch heftiger anrennt als gegen die kirchliche Intoleranz, steht in einer langen Anmerkung: »Bayle hat sehr wohl bewiesen, daß Fanatismus verderblicher wirkt als Gottlosigkeit, und das ist auch unbestreitbar; für sich behalten aber hat er eine nicht geringere Wahrheit: in all seiner Blutgier und Grausamkeit ist nämlich der Fanatismus eine große und starke Leidenschaft, die das Herz

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