LTI. Victor Klemperer
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10. November, abends. Den Höhepunkt der Werbung habe ich heute mittag an Dembers Radio miterlebt. (Unser jüdischer Physiker, schon entlassen, aber auch schon in Verhandlung um eine türkische Professur.) Diesmal war die Anordnung durch Goebbels, der dann den Ansager der eigenen Regie machte, wirklich ein Meisterstück. Alles auf Arbeit und Frieden für friedliche Arbeit gestellt. Erst das allgemeine Sirenengeheul in ganz Deutschland und die Minute des Stillschweigens in ganz Deutschland – das haben sie natürlich von Amerika gelernt und von den Friedensfeiern am Ende des Weltkriegs. Hierauf aber, vielleicht nicht sehr viel origineller (cf. Italien), doch in absoluter Vollendung durchgeführt, die Rahmung um Hitlers Rede. Maschinenhalle in Siemensstadt. Minutenlang der volle Betriebslärm, das Hämmern, Rasseln, Dröhnen, Pfeifen, Knirschen. Dann die Sirene und das Singen und allmähliche Verstummen der abgestoppten Räder. Dann aus der Stille heraus, ruhig mit Goebbels’ tiefer Stimme der Botenbericht. Und nun erst Hitler, dreiviertel Stunden ER. Zum erstenmal hörte ich eine ganze Rede von ihm, und mein Eindruck war im wesentlichen der gleiche wie vorher. Meist eine übermäßig erregte, überschrieene, oft heisere Stimme. Nur daß diesmal viele Passagen im weinerlichen Ton eines predigenden Sektierers gehalten waren. ER predigt Frieden, ER wirbt für Frieden, ER will das Ja Deutschlands nicht aus persönlichem Ehrgeiz, sondern nur um den Frieden schützen zu können, gegen den Anschlag einer wurzellos internationalen Clique von Geschäftemachern, die um ihres Profites willen skrupellos Millionenvölker aneinander hetzen …
[51]Das alles, und die gut einstudierten Zwischenrufe (»Die Juden!«) dazu, war mir natürlich längst bekannt. Aber in all seiner Abgedroschenheit, in all seiner dem Taubsten vernehmbar zum Himmel schreienden Verlogenheit bekam es doch eine besondere und neue Wirkungskraft durch einen Zug der vorbereitenden Propaganda, den ich unter ihren gelungenen Einzelheiten für den hervorragendsten und den eigentlich entscheidenden halte. Es hieß in der Voranzeige und Voransage: »Feierstunde von 13.00 bis 14.00 Uhr. In der dreizehnten Stunde kommt Adolf Hitler zu den Arbeitern.« Das ist, jedem verständlich, die Sprache des Evangeliums. Der Herr, der Erlöser kommt zu den Armen und Verlorenen. Raffiniert bis in die Zeitangabe hinein. Dreizehn Uhr – nein, »dreizehnte Stunde« – das klingt nach Zuspät, aber ER wird ein Wunder vollbringen, für ihn gibt es kein Zuspät. Die Blutfahne auf dem Parteitag, das war schon dieselbe Sparte. Aber diesmal ist die Enge der kirchlichen Zeremonie durchbrochen, ist das zeitferne Kostüm abgestreift, ist die Christuslegende in unmittelbare Gegenwart transponiert: Adolf Hitler, der Heiland, kommt zu den Arbeitern nach Siemensstadt.
14. November. Warum mache ich K. S. und den anderen Vorwürfe? Als gestern der Triumph der Regierung verkündet wurde: 93 % der Stimmen für Hitler, 40 Millionen Ja, 2 Millionen Nein; 39 Millionen für den Reichstag (die famose Einheitsliste), 3 Millionen »ungültig«, da war ich genau so überwältigt wie die anderen auch. Ich konnte mir immer wieder sagen, erstens sei das Resultat erzwungen, und zweitens bei dem Fehlen jeder Kontrolle sicherlich auch frisiert, genau so wie doch ein Gemisch aus Fälschung und Erpressung hinter der Nachricht aus London stecken muß, man bewundere dort besonders, daß sogar in den Konzentrationslagern überwiegend mit Ja gestimmt wurde –, und doch war und bleibe ich der Wirkung dieses Hitlertriumphes ausgeliefert.
Ich muß an die Überfahrt denken, die wir vor fünfundzwanzig Jahren von Bornholm nach Kopenhagen machten. In der Nacht hatten Sturm und Seekrankheit gewütet; nun saß man im Küstenschutz bei ruhiger See in der schönen Morgensonne an Deck und [52]freute sich dem Frühstück entgegen. Da stand am Ende der langen Bank ein kleines Mädchen auf, lief an die Reling und übergab sich. Eine Sekunde später erhob sich die neben ihm sitzende Mutter und tat ebenso. Gleich darauf folgte der Herr neben der Dame. Und dann ein Junge, und dann … die Bewegung lief gleichmäßig und rasch weiter, die Bank entlang. Niemand schloß sich aus. An unserem Ende war man noch weit vom Schuß: es wurde interessiert zugesehen, es wurde gelacht, es wurden spöttische Gesichter gemacht. Und dann kam das Speien näher, und dann verstummte das Lachen, und dann lief man auch auf unserem Flügel an die Reling. Ich sah aufmerksam zu und aufmerksam in mich hinein. Ich sagte mir, es gebe doch so etwas wie ein objektives Beobachten, und darauf sei ich geschult, und es gebe einen festen Willen, und ich freute mich auf das Frühstück – und indem war die Reihe an mir, und da zwang es mich genau so an die Reling wie all die anderen.
*
Ich habe für die ersten Monate des Nazismus im Rohstoff zusammengeschrieben, was in meinem Tagebuch Bezug hat auf den neuen Zustand und die neue Sprache. Damals ging es mir noch ungleich besser als später; ich war ja noch im Amt und im eigenen Haus, ich war ja noch der fast unbehelligt Beobachtende. Wiederum: ich war noch nicht ein bißchen abgestumpft, ich war noch so ganz gewohnt, in einem Rechtsstaat zu leben, daß ich damals vieles für die tiefste Hölle hielt, was ich später höchstens für ihren Vorhof, für den Danteschen Limbo nahm. Immerhin: soviel schlimmer es auch kommen sollte, alles was sich noch später an Gesinnung, an Tat und Sprache des Nazismus hinzufand, das zeichnet sich in seinen Ansätzen schon in diesen ersten Monaten ab.
[53]VI Die drei ersten Wörter nazistisch
Das allererste Wort, das sich mir als spezifisch nazistisch, nicht seiner Formung, aber seiner neuen Anwendung nach, aufdrängte, verbindet sich für mich mit der Bitterkeit des ersten durch das Dritte Reich verursachten Freundesverlustes.
Dreizehn Jahre zuvor waren wir und T. gleichzeitig nach Dresden und an die Technische Hochschule gekommen, ich als Professor, er als beginnender Student. Er war fast so etwas wie ein Wunderkind. Wunderkinder enttäuschen häufig, er aber schien über das gefährlichste Alter der Wunderkindschaft bereits unversehrt hinaus zu sein. Kleinstbürgerlicher Herkunft und sehr arm, war er während des Krieges romanartig entdeckt worden. Ein berühmter auswärtiger Professor wollte sich im Prüffeld einer Leipziger Fabrik eine neue Maschine vorführen lassen; durch Einziehungen zum Heeresdienst herrschte Mangel an Ingenieuren, der gerade allein anwesende Monteur wußte nicht Bescheid, der Professor ärgerte sich – da kroch ein verschmierter Lehrjunge unter der Maschine hervor und gab die nötigen Auskünfte. Er hatte sich durch Aufmerksamkeit auf Dinge, die ihn nichts angingen, und durch eigenes nächtliches Studium die nötigen Kenntnisse verschafft. Nun griff der Professor helfend ein, die ungemeine Energie des Jungen wurde durch den Erfolg noch gesteigert, und sehr kurze Zeit danach bestand der Volksschüler fast am selben Tage seine Prüfung als Schlossergeselle und als Abiturient. Danach bot sich ihm die Möglichkeit, seinen Unterhalt im technischen Beruf zu erwerben und gleichzeitig zu studieren. Seine mathematisch-technische Begabung bewährte sich weiter: in ganz jungen Jahren und ohne die übliche Abschlußprüfung des Diplomingenieurs erhielt er einen hohen Posten.
Aber was ihn mir nahebrachte, mir, dem leider alles Mathematisch-Technische so unergründlich fernliegt, das war die Allseitigkeit seines Bildungsstrebens und Nachdenkens. Er kam in unser Haus, er wurde aus dem Hausgenossen einigermaßen zum [54]Pflegesohn, er nannte uns, halb im Scherz, aber doch auch sehr im Ernst, Vater und Mutter, wir hatten wohl einigen Anteil an seiner Bildung. Er heiratete frühzeitig, und das herzlich nahe Verhältnis zwischen uns blieb unverändert. Daß es durch politische Meinungsverschiedenheiten je gestört werden könnte, kam keinem von uns vier Beteiligten