LTI. Victor Klemperer
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9. Juli. Vor ein paar Wochen ist Hugenberg zurückgetreten, und seine deutschnationale Partei hat »sich selbst aufgelöst«. Seitdem beobachte ich, daß an die Stelle der »nationalen Erhebung« die »nationalsozialistische Revolution« gerückt ist, und daß man Hitler häufiger als zuvor den »Volkskanzler« nennt, und daß man vom »totalen Staat« spricht.
28. Juli. Es hat eine Feier stattgefunden am Grabe der »Rathenaubeseitiger«. Wieviel Mißachtung, wieviel Amoral oder betonte Herrenmoral steckt in dieser Substantivbildung, diesem Zum-Beruf-Erheben des Mordes. Und wie sicher muß man sich fühlen, wenn man solche Sprache führt!
Aber fühlt man sich sicher? Es ist doch auch viel Hysterie in den Taten und Worten der Regierung. Die Hysterie der Sprache müßte einmal besonders studiert werden. Dies ewige Androhen der Todesstrafe! Und neulich die Unterbrechung alles Reiseverkehrs von 12 bis 12.40 Uhr zur »Fahndung auf staatsfeindliche Kuriere und Druckschriften in ganz Deutschland«. Das ist doch halb unmittelbare Angst und halb mittelbare. Ich will damit sagen, daß dieser Spannungstrick, dem Film und Sensationsroman amerikanischer Art nachgeahmt, natürlich ebensosehr erwogenes [43]Propagandamittel ist wie unmittelbares Angsterzeugnis, daß aber andrerseits zu solcher Propaganda nur greift, wer es nötig, wer eben Angst hat.
Und was sollen die dauernd wiederholten Artikel – dauerndes Wiederholen scheint freilich ein Hauptstilmittel ihrer Sprache – über die siegreiche Arbeitsschlacht in Ostpreußen? Daß sie der battaglia del grano der Faschisten nachgebildet ist, brauchen die wenigsten zu wissen; aber daß es in agrarischen Bezirken während der Ernte wenig Arbeitslose gibt, und daß man also von diesem momentanen Rückgang der Arbeitslosigkeit in Ostpreußen nicht auf das allgemeine und ständige Absinken der Arbeitslosenzahl schließen darf, muß sich schließlich auch der Dümmste sagen.
Aber das stärkste Symptom ihrer inneren Unsicherheit sehe ich im Auftreten Hitlers selber. Gestern in der Wochenschau eine Tonfilmaufnahme; der Führer spricht einige Sätze vor großer Versammlung. Er ballt die Faust, er verzerrt das Gesicht, es ist weniger ein Reden als ein wildes Schreien, ein Wutausbruch: »Am 30. Januar haben sie (er meint natürlich die Juden) über mich gelacht – es soll ihnen vergehen, das Lachen …!« Er scheint jetzt allmächtig, er ist es vielleicht; aber aus dieser Aufnahme spricht in Ton und Gebärde geradezu ohnmächtige Wut. Und redet man denn immerfort, wie er das tut, von Jahrtausenddauer und vernichteten Gegnern, wenn man dieser Dauer und Vernichtung sicher ist? – Beinahe mit einem Hoffnungsschimmer bin ich aus dem Kino fortgegangen.
22. August. Aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten kommen Anzeichen der Hitlermüdigkeit. Der Referendar Fl., kein Geisteslicht, aber ein braver Junge, spricht mich in Zivil auf der Straße an: »Wundern Sie sich nicht, wenn Sie mich einmal in Stahlhelmuniform treffen mit der Hakenkreuzbinde am Arm. Ich muß – aber der Zwang ändert gar nichts an uns. Stahlhelm bleibt Stahlhelm und ist etwas Besseres als die SA. Und von uns, von den Deutschnationalen, wird die Rettung kommen!« – Frau Krappmann, die stellvertretende Aufwartefrau, mit einem Postschaffner verheiratet: »Herr Professor, zum 1. Oktober wird der Verein [44]›Geselligkeit‹ der Postbeamten von A 19 gleichgeschaltet. Aber die Nazis sollen nichts von seinem Vermögen erhalten; ein Bratwurstessen der Herren wird veranstaltet, mit anschließender Kaffeetafel für die Damen.« – Annemarie, ärztlich unverblümt wie immer, erzählt den Ausspruch eines Kollegen mit der Hakenkreuzbinde: »Was soll man tun? Das ist wie die Cameliabinde der Damen.« – Und Kuske, der Gemüsehändler, berichtet das neueste Abendgebet: »Lieber Gott, mach mich stumm, daß ich nicht nach Hohnstein kumm.« … Mach’ ich mir etwas vor, wenn ich aus alledem Hoffnung schöpfe? Der absolute Wahnsinn kann sich doch nicht halten, wenn einmal die Betrunkenheit des Volkes aufhört, wenn der Katzenjammer anfängt.
25. August. Was nutzen die Symptome der Müdigkeit? Alles hat Angst. Mein »Deutsches Frankreichbild« war mit Quelle & Meyer verabredet und sollte zuerst in der »Neuphilologischen Monatsschrift« erscheinen, die der Rektor oder Professor Hübner redigiert, ein durchaus maßvoller und braver Schulmann. Vor ein paar Wochen schrieb er mir in bedrücktem Ton, ob ich nicht von der Veröffentlichung der Studie wenigstens bis auf weiteres absehen wollte; es gebe im Verlag »Betriebszellen« (merkwürdiges Wort, koppelt Mechanisches und Organisches – diese neue Sprache!), und man möchte doch gern die gute Fachzeitschrift erhalten, und den politischen Leitern liege das eigentliche Fachinteresse ferner … Darauf wandte ich mich an den Verlag Diesterweg, für den meine ganz sachliche und stark materialhaltige Arbeit gefundenes Fressen sein mußte. Rascheste Ablehnung; als Grund wurde angegeben, die Studie sei »rein rückwärts gerichtet« und lasse »die völkischen Gesichtspunkte vermissen«. Die Publikationsmöglichkeiten sind abgeschnitten – wann wird man mir das Maul verbinden? Im Sommersemester hat mich der »Frontsoldat« geschützt – wie lange noch wird der Schutz vorhalten?
28. August. Ich darf und darf den Mut nicht sinken lassen, das Volk macht das nicht lange mit. Man sagt, Hitler habe sich besonders auf das Kleinbürgertum gestützt, und das war ja auch ganz offensichtlich der Fall.
[45]Wir nahmen an einer »Fahrt ins Blaue« teil. Zwei volle Autobusse, etwa achtzig Leute, das denkbarst kleinbürgerliche Publikum, ganz unter sich, ganz homogen, kein bißchen Arbeiterschaft oder gehobenes, freier denkendes Bürgertum. In Lübau Kaffeerast mit Kabarettvorträgen der Wagenbegleiter oder -ordner; das ist bei diesen Ausflügen das Übliche. Der Conférencier beginnt mit einem pathetischen Gedicht auf den Führer und Retter Deutschlands, auf die neue Volksgemeinschaft usw. usw., den ganzen Nazirosenkranz herunter. Die Leute sind still und apathisch, am Schluß merkt man am Klatschen eines Einzelnen, an diesem ganz isolierten Klatschen, daß aller Beifall fehlt. Danach erzählt der Mann eine Geschichte, die er bei seinem Friseur erlebt habe. Eine jüdische Dame will ihr Haar ondulieren lassen. »Bedauere vielmals, gnädige Frau, aber das darf ich nicht.« – »Sie dürfen nicht?« – »Unmöglich! Der Führer hat beim Judenboykott feierlich versichert, und das gilt noch heute allen Greuelmärchen zum Trotz, es dürfe keinem Juden in Deutschland ein Haar gekrümmt werden.« Minutenlanges Lachen und Klatschen. – Darf ich daraus keinen Schluß ziehen? Ist nicht der Witz und seine Aufnahme für jede soziologische und politische Untersuchung wichtig?
19. September. Im Kino Szenen vom Nürnberger Parteitag. Hitler weiht durch Berührung mit der Blutfahne von 1923 neue SA-Standarten. Bei jeder Berührung der Fahnentücher fällt ein Kanonenschuß. Wenn das nicht eine Mischung aus Theater- und Kirchenregie ist! Und ganz abgesehen von der Bühnenszene – schon allein der Name »Blutfahne«. »Würdige Brüder, schauet hier: Das blutige Märtyrtum erleiden wir!« Die gesamte nationalsozialistische Angelegenheit wird durch das eine Wort aus der politischen in die religiöse Sphäre gehoben. Und die Szene und das Wort wirken fraglos, die Leute sitzen andächtig hingegeben da – niemand niest oder hustet, nirgends knistert ein Brotpapier, nirgends hört man das Schmatzen beim Bonbonlutschen. Der Parteitag eine kultische Handlung, der Nationalsozialismus eine Religion – und ich will mir weismachen, er wurzele nur flach und locker?
[46]10. Oktober. Kollege Robert Wilbrandt kam zu uns. Ob wir einen staatsgefährlichen Gast aufnehmen wollten? Er ist plötzlich entlassen worden. Die Würgeformel heißt »politisch unzuverlässig«. Man hat die Affäre des Pazifisten Gumbel ausgegraben, für den er in Marburg eingetreten