LTI. Victor Klemperer
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Die philologischen Fachzeitschriften und die Zeitschrift des Hochschulverbandes bewegen sich derart im Jargon des Dritten Reichs, daß jede Seite buchstäblich Brechreiz verursacht. »Hitlers eiserner Besen« – »die Wissenschaft auf nationalsozialistischer Basis« – »der jüdische Geist« – »die Novemberlinge« (das sind die Revolutionäre von 1918).
23. Oktober. Mir ist vom Gehalt eine »Freiwillige Winterhilfe« abgezogen worden; niemand hat mich deswegen vorher gefragt. Es soll sich um eine neue Steuer handeln, von der man sich ebensowenig ausschließen darf wie von irgendeiner anderen Steuer; die Freiwilligkeit bestehe nur darin, daß man über den festgesetzten Betrag hinaus zahlen dürfe, und auch hinter dieses Dürfen stelle sich für viele schon ein kaum verhüllter Zwang. Aber ganz abgesehen von dem verlogenen Beiwort, ist nicht das Hauptwort selber schon eine Verschleierung des Zwanges, schon eine Bitte, ein Appell an das Gefühl? Hilfe statt Steuer: das gehört zur Volksgemeinschaft. Der Jargon des Dritten Reichs sentimentalisiert; das ist immer verdächtig.
[47]29. Oktober. Plötzlicher Ukas, sehr einschneidend in den Lehrplan der Hochschule: der Dienstagnachmittag ist freizuhalten von Vorlesungen, die Studenten in ihrer Gesamtheit werden in diesen Stunden zu Wehrsportübungen herangezogen. Fast gleichzeitig begegnete ich dem Wort auf einer Zigarettenschachtel: Marke Wehrsport. Eine halbe Maske, eine halbe Demaskierung. Allgemeine Wehrpflicht ist durch den Versailler Vertrag verboten; Sport ist erlaubt – wir tun offiziell nichts Unerlaubtes, aber ein bißchen tun wir es doch, und machen eine kleine Drohung daraus, wir deuten immerhin die Faust an, die sich – vorläufig noch – in der Tasche ballt. Wann werde ich in der Sprache dieses Régimes einmal ein wirklich ehrliches Wort entdecken?
– – Gestern abend war Gusti W. bei uns, nach vier Monaten zurück aus Turö, wo sie mit ihrer Schwester Maria Strindberg zusammen bei Karin Michaelis gelebt hat. Dort hat sich offenbar eine kleine Gruppe kommunistischer Emigranten zusammengefunden. Gusti erzählte scheußliche Einzelheiten. Natürlich »Greuelmärchen«, die man sich nur ganz geheim zuflüstern darf. Besonders von dem Elend, das der jetzt sechzigjährige Erich Mühsam in einem besonders bösen Konzentrationslager erduldet. Man könnte das Sprichwort variieren und sagen: das Schlechtere ist der Freund des Schlechten; ich fange wahrhaftig an, die Regierung Mussolini für eine beinahe menschliche und europäische zu halten.
Ich frage mich, ob man die Worte Emigranten und Konzentrationslager in ein Lexikon der Hitlersprache aufzunehmen hätte. Emigranten: das ist eine internationale Bezeichnung für die vor der Großen Französischen Revolution Geflohenen. Brandes nennt einen Band seiner europäischen Literaturgeschichte die Emigrantenliteratur. Dann hat man von den Emigranten der russischen Revolution gesprochen. Und jetzt eben gibt es eine deutsche Emigrantengruppe – in ihrem Lager ist Deutschland! –, und »Emigrantenmentalität« ist ein beliebtes mot savant. So wird also diesem Wort in Zukunft nicht unbedingt der Aasgeruch des Dritten Reichs anhaften. Dagegen Konzentrationslager. Ich habe das Wort nur als Junge gehört, und damals hatte es einen durchaus [48]exotischkolonialen und ganz undeutschen Klang für mich: während des Burenkrieges war viel die Rede von den Compounds oder Konzentrationslagern, in denen die gefangenen Buren von den Engländern überwacht wurden. Das Wort verschwand dann gänzlich aus dem deutschen Sprachgebrauch. Und jetzt bezeichnet es, plötzlich neu auftauchend, eine deutsche Institution, eine Friedenseinrichtung, die sich auf europäischem Boden gegen Deutsche richtet, eine dauernde Einrichtung und keine vorübergehende Kriegsmaßnahme gegen Feinde. Ich glaube, wo künftig das Wort Konzentrationslager fallen wird, da wird man an Hitlerdeutschland denken und nur an Hitlerdeutschland …
Ist es Kaltherzigkeit von mir und enge Schulmeisterei, daß ich mich immer wieder und immer mehr an die Philologie dieses Elends halte? Ich prüfe wirklich mein Gewissen. Nein; es ist Selbstbewahrung.
9. November. Heute in meinem Corneilleseminar ganze zwei Teilnehmer: Lore Isakowitz mit der gelben Judenkarte; Studiosus Hirschowicz, Nichtarier, Vater Türke, mit der blauen Karte der Staatenlosen – die echten deutschen Studenten haben braune Karten. (Wieder die Umgrenzungsfrage: gehört das zur Sprache des Dritten Reichs?) … Warum ich so beängstigend wenig Hörer habe? Französisch ist kein beliebtes Wahlfach der Lehrerstudenten mehr; es gilt als unpatriotisch, und nun gar französische Literatur vom Juden vorgetragen! Man braucht schon beinahe ein bißchen Mut dazu, bei mir zu hören. Aber es kommt hinzu, daß jetzt alle Fächer schwach besucht werden: die Studenten sind vom »Wehrsport« und einem Dutzend ähnlicher Veranstaltungen übermäßig in Anspruch genommen. Und endlich: gerade in diesen Tagen müssen sie buchstäblich alle fast ununterbrochen bei der Wahlpropaganda mithelfen, sich an Umzügen beteiligen, an Versammlungen usw. usw.
Dies ist nun die größte Barnumiade, die ich bisher von Goebbels erlebt habe, und ich kann mir kaum denken, daß es eine Steigerung darüber hinaus gibt. Das Plebiszit für die Führerpolitik und die »Einheitsliste« für den Reichstag. Für meinen Teil finde ich ja die [49]ganze Sache so plump und so ungeschickt wie möglich. Plebiszit – wer das Wort kennt (und wer es nicht kennt, wird es sich erklären lassen), Plebiszit ist doch unweigerlich mit Napoleon III. verknüpft, und Hitler sollte sich lieber nicht mit ihm in Verbindung bringen. Und »Einheitsliste« zeigt gar zu deutlich, daß der Reichstag als Parlament ein Ende hat. Und die Propaganda als Ganzes ist wirklich eine so vollkommene Barnumiade – man trägt Schildchen mit einem »Ja« am Mantelaufschlag, man darf den Verkäufern dieser Plaketten nicht nein sagen, ohne sich anrüchig zu machen –, eine solche Vergewaltigung des Publikums, daß sie eigentlich das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung hervorbringen müßte …
Eigentlich – aber ich habe mich bisher noch immer getäuscht. Ich urteile wie ein Intellektueller, und Herr Goebbels rechnet mit einer betrunken gemachten Masse. Und außerdem noch mit der Angst der Gebildeten. Zumal ja niemand an die Wahrung des Wahlgeheimnisses glaubt.
Einen gewaltigen Sieg hat er jetzt schon über die Juden errungen. Es gab am Sonntag eine abscheuliche Szene mit dem Ehepaar K., das wir zum Kaffee hatten laden müssen. Müssen, denn der Snobismus der Frau, die kritiklos jede neueste oder zuletzt gehörte Meinung nachschwätzt, geht uns schon lange auf die Nerven; aber der Mann, obwohl er gern die Rolle des weisen Nathan spielt, schien mir immer leidlich vernünftig. Am Sonntag also erklärte er, er habe sich »schweren Herzens«, genau wie der Zentralverein jüdischer Staatsbürger, entschlossen, beim Plebiszit mit Ja zu stimmen, und seine Frau setzte hinzu, das Weimarer System habe sich nun einmal als unmöglich erwiesen, und man müsse sich »auf den Boden der Tatsachen« stellen. Ich verlor alle Fassung, schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Tassen