LTI. Victor Klemperer
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All das haben wir seitdem so abertausendmal gesehen und gehört, mit so geringen Variationen nur immer wiederholt, als Aufnahme vom Nürnberger Parteitag oder aus dem Berliner Lustgarten oder vor der Münchener Feldherrnhalle usw. usw., daß uns der Mussolinifilm eine sehr alltägliche und nicht im geringsten außergewöhnliche Leistung zu sein scheint. Aber so wie der Titel Führer nur eine Verdeutschung von Duce ist, und das Braunhemd nur eine Variation des italienischen Schwarzhemds, und der Deutsche Gruß nur eine Nachahmung des Faschistengrußes, so ist die gesamte Filmaufnahme solcher Szenen als Propagandamittel, so ist die Szene selber, die Führerrede vor dem versammelten Volk, in Deutschland dem italienischen Vorbild nachgeformt worden. In beiden Fällen handelt es sich darum, den führenden Mann in unmittelbaren Kontakt mit dem Volk selber, dem ganzen Volk und nicht nur seinen Vertretern, zu bringen.
Verfolgt man diesen Gedanken zurück, so stößt man unweigerlich auf Rousseau, insbesondere auf seinen Contrat social. Indem Rousseau als Genfer Bürger schreibt, also die Verhältnisse eines Stadtstaates vor Augen hat, ist es seiner Phantasie fast etwas zwangsläufig Selbstverständliches, der Politik antike Form zu geben, sie in städtischen Grenzen zu halten – Politik ist ja die Kunst, eine Polis, eine Stadt, zu leiten. Bei Rousseau ist der Staatsmann der Redner zum Volk, dem auf dem Markt versammelten, bei Rousseau bedeuten sportliche und künstlerische Veranstaltungen, an denen die Volksgemeinschaft teilnimmt, politische Institutionen und Werbemittel. Es war die große Idee Sowjetrußlands, durch Anwendung der neuen technischen Erfindungen, durch Film und Radio die raumbegrenzte Methode der Alten und Rousseaus ins [64]Unbegrenzte auszudehnen, den führenden Staatsmann sich wirklich und persönlich »an alle« wenden zu lassen, auch wenn diese »Alle« nach Millionen zählten, auch wenn Tausende von Kilometern zwischen ihren einzelnen Gruppen lagen. Damit wurde der Rede unter den Mitteln und Pflichten des Staatsmannes die Wichtigkeit zurückgegeben, die sie in Athen besessen hatte, ja eine erhöhte Wichtigkeit, weil ja nun eben an die Stelle Athens ein ganzes Land und mehr als nur ein Land trat.
Aber nicht nur wichtiger als vordem war die Rede jetzt geworden, sondern mit Notwendigkeit auch ihrem Wesen nach etwas anderes als zuvor. Indem sie sich an alle wandte und nicht mehr an ausgewählte Volksvertreter, mußte sie sich auch allen verständlich machen und somit volkstümlicher werden. Volkstümlich ist das Konkrete; je sinnlicher eine Rede ist, je weniger sie sich an den Intellekt wendet, um so volkstümlicher ist sie. Von der Volkstümlichkeit zur Demagogie oder Volksverführung überschreitet sie die Grenze, sobald sie von der Entlastung des Intellekts zu seiner gewollten Ausschaltung und Betäubung übergeht.
In gewissem Sinn kann man den festlich geschmückten Markt oder die mit Bannern und Spruchbändern hergerichtete Halle oder Arena, in der zur Menge gesprochen wird, als einen Bestandteil der Rede selber, als ihren Körper ansehen; die Rede ist in solchem Rahmen inkrustiert und inszeniert, sie ist ein Gesamtkunstwerk, das sich gleichzeitig an Ohr und Augen wendet, und doppelt an das Ohr, denn das Brausen der Menge, ihr Applaus, ihr Ablehnen wirkt auf den Einzelhörer gleich stark, mindestens gleich stark wie die Rede an sich. Wiederum ist auch die Tonart der Rede selber fraglos beeinflußt, fraglos sinnlicher gefärbt durch solche Inszenierung. Der Tonfilm überträgt dies Gesamtkunstwerk in seiner Ganzheit; das Radio ersetzt das dem Auge gebotene Schauspiel durch Ansage, die dem antiken Botenbericht entspricht, gibt aber die aufreizende auditive Doppelwirkung, das spontane Responsorium der Masse, getreu wieder. (»Spontan« gehört zu den Lieblingsfremdwörtern der LTI, und davon wird noch zu reden sein.)
[65]Das Deutsche bildet zu Rede und reden nur das eine Adjektiv rednerisch, und dies Adjektiv hat keinen sehr guten Klang, eine rednerische Leistung steht immer einigermaßen im Verdacht der Schaumschlägerei. Man könnte hier fast von einem dem deutschen Volkscharakter eingeborenen Mißtrauen gegen den Redner sprechen.
Die Romanen dagegen, denen solches Mißtrauen fernliegt, und die den Redner schätzen, unterscheiden scharf zwischen dem Oratorischen und dem Rhetorischen. Orator ist ihnen der ehrliche Mann, der durch sein Wort zu überzeugen sucht, der sich, redlich um Klarheit bemüht, an beides, an Herz und Vernunft seiner Hörer wendet. Oratorisch ist ein Lob, das die Franzosen großen Klassikern der Kanzel und des Theaters, einem Bossuet, einem Corneille schenken. Solche großen Oratoren sind auch der deutschen Sprache gegeben, so Luther und Schiller. Für das anrüchig Rednerische hat man im Westen den Sonderausdruck rhetorisch; der Rhetor – das geht auf die Sophistik der Griechen und auf ihre Verfallszeit zurück – ist der Sprüchemacher, der Umnebler des Verstandes.
Gehörte Mussolini zu den Oratoren oder den Rhetoren seines Volkes? Sicherlich hat er dem Rhetor näher gestanden als dem Orator, und im Lauf seiner unseligen Entwicklung ist er schließlich dem Rhetorischen ganz und gar verfallen. Aber manches, was dem deutschen Ohr bei ihm rednerisch klingt, ist es nicht eigentlich, weil es sich kaum über das hinaushebt, was dem Italienischen an Redefärbung der Sprache durchaus natürlich ist. Popolo di Napoli! Volk von Neapel! hieß die Anrede bei jener Jubiläumsfeier. Dem deutschen Hörer klingt das etwas bombastisch antikisierend. Aber mir fiel der Reklamezettel ein, den mir kurz vor dem ersten Weltkrieg ein Verteiler in Scanno in die Hand drückte. Scanno ist ein kleines Städtchen in den Abruzzen, und die Abruzzensen sind stolz auf ihre physische Kraft und Kühnheit. Ein neueröffnetes Warenhaus pries sich dort an, und die Anrede lautete: Forte e gentile Popolazione di Scanno! Starke und edle Bevölkerung! Wie einfach nahm sich hiergegen Mussolinis »Volk von Neapel!« aus.
Vier Monate nach Mussolini hörte ich zum erstenmal Hitlers Stimme. (Ich habe ihn nie gesehen, nie unmittelbar sprechen hören, [66]das war ja Juden verboten; im Anfang trat er mir manchmal im Tonfilm entgegen, später, als mir das Kino verboten war und ebenso der Besitz eines Radioapparates, hörte ich seine Reden oder Bruchstücke daraus aus Straßenlautsprechern und in der Fabrik.) Am 30. Januar 1933 war er Kanzler geworden, am 5. März sollte die Wahl stattfinden, die ihn bestätigte und ihm den willigen Reichstag schuf. Die Vorbereitungen für die Wahl, zu denen – auch ein Stück LTI! – der Reichstagsbrand gehörte, waren im größten Maßstab durchgeführt, Zweifel an seinem Erfolg konnten dem Mann unmöglich kommen; von Königsberg aus sprach er im Gefühl des sichersten Triumphes. Der Rahmenvergleich mit Mussolinis Neapeler Rede war für mich gegeben trotz der Unsichtbarkeit und Entferntheit des Führers. Denn vor der angestrahlten Hotelfront am Dresdener Hauptbahnhof, von der aus ein Lautsprecher die Rede übermittelte, drängte sich eine leidenschaftliche Menschenmenge, auf den Balkons standen SA-Leute mit großen Hakenkreuzfahnen, und vom Bismarckplatz her näherte sich ein Fackelzug. Von der Rede selbst vernahm ich nur Bruchstücke, eigentlich mehr Klänge als Sätze. Und doch hatte ich damals schon genau den gleichen Eindruck, der sich mir bis zuletzt immer wiederholt hat. Welch ein Unterschied dem Vorbild Mussolini gegenüber!
Der Duce, so sehr man die körperliche Anstrengung spürte, mit der er Energien in seine Sätze preßte, mit der er Beherrschung der Menge zu seinen Füßen anstrebte, der Duce schwamm doch immer im klingenden Strom seiner Muttersprache, überließ sich ihr bei allem Herrschaftsanspruch, war,