LTI. Victor Klemperer
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Es wäre deshalb auch irreführend, wollte ich sagen, die LTI wende sich auf allen Gebieten ausschließlich an den Willen. Denn wer den Willen anruft, ruft immer den Einzelnen, auch wenn er sich an die aus Einzelnen zusammengesetzte Allgemeinheit wendet. Die LTI ist ganz darauf gerichtet, den Einzelnen um sein individuelles Wesen zu bringen, ihn als Persönlichkeit zu betäuben, ihn zum gedanken- und willenlosen Stück einer in bestimmter Richtung getriebenen und gehetzten Herde, ihn zum Atom eines rollenden Steinblocks zu machen. Die LTI ist die Sprache des [34]Massenfanatismus. Wo sie sich an den Einzelnen wendet, und nicht nur an seinen Willen, sondern auch an sein Denken, wo sie Lehre ist, da lehrt sie die Mittel des Fanatisierens und der Massensuggestion.
Die französische Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts hat zwei Lieblingsausdrücke, -themen und -sündenböcke: Priestertrug und Fanatismus. Sie glaubt nicht an die Echtheit priesterlicher Gesinnung, sie sieht in allem Kult einen Betrug, der zur Fanatisierung einer Gemeinschaft und zur Ausbeutung der Fanatisierten erfunden ist.
Nie ist ein Lehrbuch des Priestertrugs – nur sagt die LTI statt Priestertrug: Propaganda – mit schamloserer Offenheit geschrieben worden als Hitlers »Mein Kampf«. Es wird mir immer das größte Rätsel des Dritten Reichs bleiben, wie dieses Buch in voller Öffentlichkeit verbreitet werden durfte, ja mußte, und wie es dennoch zur Herrschaft Hitlers und zu zwölfjähriger Dauer dieser Herrschaft kommen konnte, obwohl die Bibel des Nationalsozialismus schon Jahre vor der Machtübernahme kursierte. Und nie, im ganzen achtzehnten Jahrhundert Frankreichs nie, ist das Wort Fanatismus (mit dem ihm zugehörigen Adjektiv) so zentral gestellt und bei völliger Wertumkehrung so häufig angewandt worden wie in den zwölf Jahren des Dritten Reichs.
[35]IV Partenau
In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre lernte ich einen jungen Menschen kennen, der sich soeben als Offiziersaspirant zur Reichswehr gemeldet hatte. Seine angeheiratete Tante, Witwe eines Kollegen von der Hochschule, sehr weit links stehend und leidenschaftliche Verehrerin Sowjetrußlands, führte ihn mit einer Art Entschuldigung bei uns ein. Er sei ein wirklich guter und gutmütiger Junge und habe seinen Beruf in aller Herzensreinheit ohne Chauvinismus und Blutgier gewählt. In seiner Familie würden die Söhne seit Generationen Pfarrer oder Offizier, der verstorbene Vater sei Pfarrer gewesen, Theologie studierte schon der ältere Bruder, also betrachtete er, der Georg, zumal er ein ausgezeichneter Turner und schlechter Lateiner sei, die Reichswehr als den für ihn gegebenen Ort; und sicher würden es seine Leute einmal gut bei ihm haben.
Wir waren dann des öftern mit Georg M. zusammen und fanden das Urteil seiner Tante durchaus zutreffend.
Ja, er legte noch eine harmlose und selbstverständliche Grundanständigkeit an den Tag, als es um ihn herum schon nicht mehr so grundanständig zuging. Von seiner Stettiner Garnison aus, wo er auf die Beförderung zum Leutnant wartete, besuchte er uns mehrmals in Heringsdorf, obwohl damals die Ideen des Nationalsozialismus schon stark um sich griffen und vorsichtige Akademiker und Offiziere es bereits vermieden, in linksgerichteten, und nun gar jüdischen Kreisen zu verkehren.
Bald danach wurde M. als Leutnant in ein Königsberger Regiment versetzt, und wir hörten jahrelang nichts mehr von ihm. Nur einmal erzählte seine Tante, er werde jetzt zum Flieger ausgebildet und fühle sich als Sportler glücklich. – –
Im ersten Jahr des Hitlerrégimes – ich war noch im Amt und suchte mir noch alle nazistische Lektüre fernzuhalten – fiel mir ein 1929 erschienenes Erstlingswerk in die Hand, Max René [36]Hesses »Partenau«. Ich weiß nicht, ob es im Titel selber oder nur auf dem Waschzettel »Der Roman der Reichswehr« hieß; jedenfalls prägte sich mir die generelle Bezeichnung ein. Künstlerisch war es ein schwaches Buch: Novelle im noch unbewältigten Romanrahmen, zuviel schattenhaft bleibende Leute neben den zwei Hauptgestalten, zuviel ausgesponnene strategische Pläne, die nur den Fachmann, den angehenden Generalstäbler interessieren, eine unausbalancierte Leistung.
Aber der Inhalt, der nun doch die Reichswehr charakterisieren sollte, frappierte mich sofort und ist später wieder und wieder in meinem Gedächtnis aufgetaucht. Die Freundschaft des Oberleutnants Partenau und des Junkers Kiebold. Der Oberleutnant ist ein militärisches Genie, ein verbohrter Patriot und ein Homosexueller. Der Junker möchte nur sein Jünger sein, aber nicht sein Geliebter, und der Oberleutnant erschießt sich. Er ist durchaus als tragische Gestalt gedacht: die Sexualverirrung wird einigermaßen ins Heroische eigentlicher Männerfreundschaft glorifiziert, und der unbefriedigte Patriotismus soll wohl an Heinrich von Kleist erinnern. Das Ganze ist im expressionistischen, bisweilen pretiös geheimnisvollen Stil der Kriegs- und ersten Weimarer Jahre geschrieben, etwa in Fritz von Unruhs Sprache. Aber Unruh und die deutschen Expressionisten jener Zeit waren Friedensfreunde, waren humanitär und bei aller Heimatliebe weltbürgerlich gesinnt. Partenau dagegen ist erfüllt von Revanchegedanken, und seine Pläne sind keineswegs bloße Hirngespinste; er spricht von schon vorhandenen »unterirdischen Provinzen«, von dem unterirdischen Bau »organisierter Zellen«. Was noch fehle, sei einzig ein überragender Führer. »Nur ein Mann, mehr als ein Kriegsmann und Bauherr, vermöchte ihre geheime schlafende Kraft zu einem gewaltigen und geschmeidigen Werkzeug lebendig zu machen.« Findet sich dieses Führergenie, dann wird es Raum schaffen für die Deutschen. Fünfunddreißig Millionen Tschechen und andere nichtgermanische Völker wird der Führer nach Sibirien verpflanzen, und ihr jetziger europäischer Raum wird dem deutschen Volke zugute kommen. Das hat ein Anrecht darauf durch [37]seine menschliche Überlegenheit, wenn auch sein Blut seit zweitausend Jahren »mit Christentum durchseucht ist« …
Der Junker Kiebold ist von den Ideen seines Oberleutnants enthusiasmiert. »Für Partenaus Träume und Gedanken würde ich morgen schon sterben«, erklärt er; und zu Partenau selbst sagt er später: »Du warst der erste Mensch, den ich ruhig fragen konnte, was eigentlich Gewissen, Reue, Moral neben Volk und Land bedeuten, worüber wir dann gemeinschaftlich in tiefstem Unverständnis den Kopf geschüttelt haben.«
Wie gesagt: schon 1929 war das erschienen. Welch eine Vorwegnahme der Sprache, der Gesinnungen des Dritten Reichs! Damals, als ich mir die entscheidenden Sätze im Tagebuch notierte, konnte ich es nur ahnen. Und daß sich diese Gesinnung einmal in Taten umsetzen, daß »Gewissen, Reue, Moral« eines ganzen Heeres, eines ganzen Volkes wirklich einmal ausgeschaltet werden könnten, hielt ich damals noch für unmöglich. Das Ganze schien mir die wilde Phantasie eines aus dem Gleichgewicht gebrachten Einzelnen. Und so mußte es wohl auch allgemein aufgefaßt worden sein; denn sonst wäre es unbegreiflich, daß eine so hetzerische Schrift unter der Republik veröffentlicht werden konnte …
Ich gab das Buch unserer Sowjetfreundin zu lesen; sie war gerade von einem Ferienaufenthalt im ländlichen Elternhause ihres Neffen zurückgekehrt. Nach ein paar Tagen brachte sie es ganz unverwundert zurück: das sei ihr alles längst geläufig, Stil wie Inhalt; der Autor müsse aufs genaueste beobachtet haben. »Georg, der ganz harmlose, ganz unliterarische Junge, schreibt längst in gleicher Sprache, spielt längst mit gleichen Gedanken.«
Wie sich harmlos mittlere Naturen ihrer Umgebung angleichen! Uns fiel nachträglich ein, wie der gutmütige Junge schon in Heringsdorf vom »frischen, fröhlichen Krieg« gesprochen