Strategie als Beruf. Maximilian Terhalle

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Strategie als Beruf - Maximilian Terhalle

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Merkel dem Ende zuneigt – und damit eine Neufassung des gängigen, realitätsverdrängenden Amerikabilds möglich wird – entsteht Denkraum für jene strategischen Notwendigkeiten, die bisher im „bleiernen“ (Kramp-Karrenbauer, zit. n. Münstermann 2018) Konsens Berlins ausgeblendet wurden: Nämlich die unausgesprochene Spaltung des Westens durch eine doppelte Reform von innen heraus zu überwinden. Dafür gilt es zum Ersten, die strategische Bewertung Chinas als zentralen Herausforderer Amerikas in dem Sinne zu verstehen, dass ein Krieg zwischen den beiden unweigerlich signifikanten Einfluss auf Amerikas Abschreckungsfähigkeit in Europa hat. Und dass Amerika deshalb bereits im Vorfeld, um China zu schwächen, auf Russland zugehen könnte. Die Antwort darauf ist eine strategische, deutsch-französische Nuklearabschreckung, die innerhalb der NATO als Break-out-Option bereitsteht, sollten Amerika und China tatsächlich Krieg in Ostasien führen.6 Diese Antwort ist Teil eines deutsch-französischen grand bargain7 in den wirtschafts- und sicherheitspolitischen Fragen Europas. Zum Zweiten gilt es, anders als Frau Merkel dies getan hat, die politische Kommunikation und entsprechend die innereuropäische Bewusstseinsbildung zentral auf das zu richten, was bei weiterer Nachlässigkeit existentiell bedroht ist: nämlich auf den Wert politischer Freiheit für liberale Gesellschaften (im Angesicht autoritärer Staaten wie Russland und China). Tatkräftig von Deutschland befördert könnte so eine transatlantische Vision entstehen, die diese zwei Elemente in eine Strategie einfügt, und damit sicherstellt, dass „nicht andere, mit anderen Werten Hand an unsere Lebenswelt, an unsere Freiheit legen“ (Gauck 2017, S. 12).

      1. Deutschlands strategischer Spielraum

      Der Unwille der USA, Europas Sicherheit langfristig und umfassend zu garantieren, ist unleugbar. Darüber sollten weder die gegenwärtige Stärkung der NATO durch Amerika in Osteuropa noch die Chimäre einer besseren Post-Trump-Ära hinwegtäuschen, die bis vor kurzem von den Generälen um ihn aufrechterhalten werden sollte. McMaster und Kelly mussten bereits zurücktreten; Mattis folgte ihnen Ende 2018. Kurzum, die in Berlin verbreitete Vermutung, US-Strategie ohne den außenpolitisch zunehmend enthemmten Präsidenten denken zu können oder zu glauben, sein Instinkt könne außenpolitisch wesentlich durch die Verfassung verändert werden, ist günstigstenfalls als optimistisch zu bezeichnen (Terhalle 2017). Eine Regierung unter der unterlegenen Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton hätte vielleicht weniger konfrontativ gesprochen, wäre aber in der Sache ähnlich hart gewesen.

      Daraus aber nun abzuleiten, Europa solle sich ohne Amerika als Westen neu definieren, weil einigen Beobachtern8 die notwendige, nüchterne Analyse Trump’scher Außenpolitik misslingt oder sie sich dieser Aufgabe nicht stellen wollen, ist kurzsichtig. Strategisch ist dies in jeder Hinsicht unratsam und fahrlässig, da kein westliches Europa dem gemeinsamen Druck Russlands und Chinas standhalten kann. Ihm bliebe nur die von Kissinger zugeschriebene Rolle eines Anhängsels Eurasiens, so sehr beide Großmächte dies gewiss als Win-win-Situation verkaufen würden.

      Ob es Deutschlands außenpolitischen Eliten gelingt, das dringend notwendige Verständnis für solches Denken zu entwickeln, ist gegenwärtig unklar. Bisher adoptieren nur wenige Beobachter in Berlin diesen komplementären Blick auf Russland und China und erkennen deshalb auch nur selten die doppelte Dimension jenes gewaltigen Drucks, der heute strategisch auf Europa und damit auch auf Deutschland wirkt. Anstatt also die Kräftedynamik zwischen diesen beiden Mächten komplementär zu betrachten und die Folgen zu antizipieren, werden Russland und China in Berlin hingegen noch immer getrennt betrachtet. Drei Beispiele:

      • Wie eine Durchsicht der betreffenden Reden von 2008 bis 2018 zeigt, betrachtet das Bundeskanzleramt Russland und China konsequent getrennt. In keiner Rede wird erkennbar, dass die Beziehung zwischen den beiden eine eigenständige, signifikante Bedeutung hat (Bundeskanzleramt 2008–2018).

      • Der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, zuweilen als Vordenker der deutschen strategic community bezeichnet, betont in seinem jüngsten Buch (und Spiegel-Bestseller) Welt in Gefahr gleich vorweg, dass China „nur gestreift werden [konnte], um genügend Raum zu lassen für die Abhandlung der grundlegenderen Fragen von Krieg und Frieden, von internationaler Verantwortung und globaler Ordnungspolitik“ (2018, S. 11).9

      • Der Koalitionsvertrag von 2017 und zahlreiche Planungspapiere der Bundeswehr, die sich dem NATO-Erfordernis von 2% des jeweiligen Haushaltsbudgets widmen, fokussieren allein auf Russland (Deutscher Bundestag 2018).

      Alle drei Beispiele beschreiben eindringlich, wie unzulänglich Kissingers Aussagen hierzulande verstanden werden. Dabei ist es nicht so, dass heute in Berlin nicht (viel) von den Gefahren für die liberale Weltordnung geredet wird. Auch ist es ja nicht so, dass Deutschland sich nicht international engagierte. Vielmehr hat es mehr Verantwortung in den letzten Jahren übernommen, zuletzt in nicht weniger als 14 Auslandseinsätzen. Aber der Zweck dieser Verantwortung ist nicht strategisch formuliert worden, schon gar nicht mit Frankreich im Licht des Brexits. Eine Debatte im geschützten Rahmen der NATO ist auch nicht erfolgt.

      Wie gelingt diese Formulierung des strategischen Zweckes nun? Ein früherer Vorschlag ging dahin, deutsche Interessen zu definieren. Das ist vordergründig ein (semantischer) Schritt in die richtige Richtung. Deutsche Interessen definierend festzusetzen, bedeutet aber nicht, sie entsprechend auch um- und durchsetzen zu können.10 Angesichts der vorwaltenden Großmächte ist Deutschland erkennbar und substantiell zu schwach. Und deshalb nicht zuletzt Mitglied der NATO – der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl nannte die Allianz die „Staatsräson“ Deutschlands (Kohl 1984).

      Der strategischen Bestimmung des Zwecks deutscher Machtausübung muss vielmehr eine zentrale Überlegung vorausgehen: Wie ist das geopolitische Umfeld Deutschlands bestimmt, in dem Berlin seinen strategischen Zweck bestimmen will? Denn: Deutschlands und Europas strategische Handlungsspielräume werden kategorisch durch das Spannungsfeld zwischen den Großmächten Amerika, China und Russland definiert. Das antagonistische Umfeld wird somit durch die jeweils vorherrschenden Großmächte und die interaktive Dynamik zwischen diesen bestimmt. Dabei ist entscheidend, welche Analyse der internationalen Sicherheitspolitik die traditionelle Schutzmacht Europas zum Erhalt ihrer Vormachtstellung, also gegenüber etwaigen Herausforderern, vornimmt. Nur aus dem so angelegten Verständnis von Amerikas militärischer Glaubwürdigkeit und seiner Kapazitätsgrenzen lässt sich erkennen, wie es tatsächlich um den militärischen Schutz deutscher und europäischer Souveränität bestellt ist. Und nur aus Amerikas Perzeption der internationalen Sicherheitspolitik lässt sich dann erkennen, welche Rolle Amerika durch die NATO zum Schutz Deutschlands und Europas einnehmen kann und will. Umgekehrt impliziert dies, was die Europäer deshalb tun müssen.11

      Der realistisch erst durch diese Kontextualisierung zu erkennende, strategische Zweck deutscher und europäischer Strategie wird nun deutlich: Dieser liegt in der Gewährleistung des Schutzes der vitalen Grundlagen der Sicherheit, des Wohlstands und der „Lebenswelt“ (Gauck 2017, S. 12) Europas.12 Was zunächst naheliegend erscheint, hat drei wichtige Konsequenzen. Erstens: Da Strategie den Kern von Interessen als vital herleitet, können andere Interessen, die nicht die Grundlagen seiner Existenz betreffen, nicht Prioritäten abbilden. Zweitens: Die Handlungsnotwendigkeiten, die sich aus dieser Vermessung des Spielraums ableiten, sind der Kern deutscher und europäischer Strategieplanung.13 Die politisch zu schaffenden, innereuropäischen Voraussetzungen derjenigen Option, die der Erreichung des Strategiezwecks am dienlichsten erscheint, werden im folgenden Kapitel vertieft. Hier genügt zunächst der Hinweis auf den militärischen Teil der unten folgenden politischen Antwort dahingehend, dass eine adaptive Stärkung der NATO zu einem transatlantischen, innovativen burden-sharing führen kann. Aus diesem neuen transatlantischen Konsens leitet sich die Stärkung der NATO ab und damit die Stärkung jenes Instruments, das den deutschen und europäischen Strategiezweck gewährleistet. Drittens: Erst am Ende dieser strategischen Bestimmung des politischen Zwecks deutscher und europäischer Macht steht die Frage nach der Beschaffenheit militärischer Kapazitäten.14

      Aber wie sieht nun die für Europa weitreichende strategische Perzeption Amerikas von internationaler Sicherheitspolitik konkret aus? Wesentlich für das Verständnis ist dabei, den entscheidenden

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