Strategie als Beruf. Maximilian Terhalle
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Strategie als Beruf - Maximilian Terhalle страница 14
4. Klassiker Clausewitz
Ganz im Sinne seines militärischen, historischen Ursprungs bezeichnete Clausewitz Strategie als Duell konfligierender Willen. Während er die herausragende Wichtigkeit der – aufgrund der oben genannten Unsicherheit – extrem schwierigen Analyse gegnerischer und, im Falle kriegerischen Konflikts, feindlicher Intentionen betonte, kann von einem Duell allein heute allerdings keine Rede mehr sein. Nicht nur die öffentliche Meinung der involvierten Antagonisten, die Kohäsion ihrer Bündnisse und die jeweilige innenpolitische Konsensschaffung spielen wesentliche Rollen. Auch verfolgen Entscheidungsträger selbst in Krisen multiple Ziele, die das übergeordnete Ziel möglicherweise, wenn auch unbewusst, unterlaufen. Clausewitz machte allerdings früh deutlich, dass der kontinuierliche Erhalt wirtschaftlicher Stärke Aufgabe des Staates zu Friedenszeiten und dies wesentlich bei der Strategiebildung war. In Friedenszeiten war Strategie für ihn somit integraler Bestandteil staatlicher Planung, da Konflikte aufgrund der steten Unzufriedenheit einiger mit dem Status quo permanent gedacht werden mussten (Heuser 2010, S. 488–489).
Die heute von der Strategieforschung am meisten anerkannte Leistung Clausewitz’ besteht nun darin, nicht lineare und reziproke Wirkungsdynamiken von und in Konfliktsituationen erkannt zu haben.12 Er hinterfragte einfache Ziel-Wirkung-Annahmen, die sich auf seinerzeitige (und teils noch heute anzutreffende) rationalistische Kalkulationen der vorhandenen Mittel in Bezug zur Erreichung eines Ziels beriefen. Er begriff so die reziproke Dynamik von diplomatischen und militärischen Konfliktentwicklungen, von Zufällen und deren beider begrenzte Steuerungsmöglichkeit durch eine genaue politische Zielbestimmung. Friktionen werden vielmehr qua natura von dieser wunderlichen Trinität generiert und erschweren in erheblichem Maße die kognitive Greifbarkeit und analytische Beantwortung ihrer diffusen und komplexen Dynamik untereinander.
Clausewitz war sich somit unweigerlich des Problems strategischer Unvorhersehbarkeit in Konflikten bewusst, verneinte aber stringent – obschon heute von Chaos-Theoretikern übersehen –, dass dies zu einer Tabula rasa führen müsste. Im Gegenteil: Er insistierte, dass (Donald Rumsfelds) unkown unknowns immer nur ein Teil der Planung war. Selbst im sich anbahnenden oder realen Konfliktfall gab es militärische Mechanismen (Blockaden) und bzw. oder diplomatische Vorgehensweisen (Sanktionen, Allianzbildung), die ihre Ziele bewirken konnten. Überdies waren Gegner (und Feinde) gleichermaßen jenen Friktionen ausgesetzt, die der Trinität von Konfliktdynamiken entsprangen. Er sah Erschütterungen der Zielplanung mithin als gegeben an und inkorporierte Planungen für Eventualitäten in sein Denken. Trotz dieser inhärenten Ungewissheit, so wies er Anführer an, waren übergeordnete Ziele mit Beharrlichkeit nicht aus den Augen zu verlieren, indem Beschränkungen des Handelns jeweils durch adaptives Verhalten aufzulösen waren. Helmuth Karl Bernhard von Moltke sollte dies 80 Jahre später so fassen: „Die Strategie ist die Fortbildung des ursprünglich leitenden Gedankens entsprechend den stets sich ändernden Verhältnissen“ (zit. n. Herberg-Rothe 2017, S. 180). Überdies sollte sich jeder kluge Planer solches Herangehen mit einem möglichst akkuraten Überblick über die Intentionen und die Natur des Konfliktgegners erleichtern, ohne dabei der defensiv gefärbten Rhetorik des Gegenübers zu glauben (Freedman 2013, S. 86–92; Herberg-Rothe 2017, S. 149–183).13
5. Internationale Strategielehre heute
Die moderne Lehre von der Strategie baut auf den klassischen Einsichten Clausewitz’ auf. Sie beschäftigt sich mit der systematischen Analyse menschlicher Entscheidungsfindung in oft, aber nicht vollständig, unwägbaren internationalen Kontexten. Sie erkennt darüber hinaus die inhärente Schwierigkeit des Strategen, im Jetzt dieser Unsicherheit des Heute über das (teilweise noch) unklare Morgen Entscheidungen treffen zu müssen. Der Historiker Hermann Oncken (1935, S. 365–366) hat das ebenso gerne zitierte wie verkürzt verstandene Wort Bismarcks über Politik als die „Kunst des Möglichen“ richtig gefasst: Der Stratege müsse nicht nur „die Realitäten, die ihn umgeben“, mittels eines „sachlichen Wirklichkeitssinns“ verstehen, vielmehr müsse er „die noch schwerer erlernbare Fähigkeit, […] das noch nicht Wirkliche rechtzeitig zu erkennen“ durch einen „Instinkt für die unsichtbaren und unwägbaren Dinge“ erfassen. Nur so könne er „auf der Brücke zwischen dem Gegenwärtigen und dem Zukünftigen“ bestehen. Damit wird deutlich, dass der Stratege zwar die Realitäten der Gegenwart berücksichtigen müsse, aber darüber hinaus und trotz unausweichlicher Imponderabilien, immer in größeren Kontexten über diese hinausdenken und eine Vision davon haben, wie er die strategische Sicherheit eines Landes in die Zukunft hinein sichern will. Das Verdikt Helmut Schmidts gegen Visionen zerfällt somit im Strategischen. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat dies kürzlich richtig betont (Kegel 2017).14
Die Forschung ist sich angesichts multikomplexer Kontexte dabei der Spannungen zwischen kurz- und langfristig angelegter Planung mit Blick auf die kognitiven Anforderungen an Strategen bewusst.15 Wesentliche Autoren wie Lawrence Freedman und Beatrice Heuser argumentieren heute, dass Strategen ihre Entscheidungen für die eine, aber gegen andere Optionen auf einer dualen Logik aufbauen. Entgegen der Annahmen von Rational Choice-Theorien, die die Fähigkeit zur kontextuellen Verarbeitung sämtlicher situationsbezogener Informationen mit der Geschwindigkeit eines Hochleistungsrechners voraussetzen, aber Reziprozitäten, Friktionen und individuelle Weltbilder vernachlässigen, zeigen sie mittels kognitionspsychologischer Erkenntnisse, dass zwei Logiksysteme in einem akuten Konfliktfall miteinander rivalisieren und sich im günstigen Fall, aber keineswegs zwingend, komplementieren.
Das erste System sind tief verinnerlichte Stereotypen und Weltbilder, die intuitiv und selektiv die Komplexität der jeweiligen Konfliktsituation kognitiv herunterbrechen und dadurch greifbar machen. Das zweite System kann als Korrektiv des ersten fungieren, indem es die Angemessenheit des Stereotyps für den neuen Kontext mittels langfristigen Sachverstands überprüft. Die Intervention des zweiten Systems mag dabei das rationale Element in der Strategieauswahl betonen, dominiert das erste System aber nicht verlässlich. Im günstigen Fall, dass es sich durchsetzt, kann es ein visionäres Narrativ aus der Gegenwart für die Zukunft generieren, das sich der Realitäten der Gegenwart im Sinne Onckens bewusst ist und die jeweilige Gefolgschaft überzeugt. Falls dies nicht gelingt, kann die intuitive Anwendung des hergebrachten Stereotyps trotzdem treffsicher sein oder aufgrund veränderter internationaler Kontexte zum potentiell desaströsen Analogiefehlschluss führen (Freedman 2013, S. 600–606, 612–615).16 Nie auszuschließende Zufälle, Friktionen, in einem Wort „system effects“, komplizieren die Erfolgswahrscheinlichkeit zudem (Jervis 1997).
Dies lässt den Schluss zu, dass es den mit hyperkomplexer Kontextualisierungsfähigkeit ausgestatteten Meisterstrategen nicht geben kann.17 Vielmehr weist sich der erfolgreiche Stratege durch die Kombination rationaler Intelligenz, intuitiver Perzeption und der Fähigkeit aus, Regierungsapparat, Bevölkerung und Verbündete von seiner realitätsnahen Vision zu überzeugen. Dies kann, wenn überhaupt, nicht einem Militär, sondern nur einem Spitzenpolitiker gelingen, der erhebliche Überzeugungsfähigkeiten mitbringt.18 Langfristig angelegte Wissensbestände und situative Kenntnis über das große Ganze, in dem die jeweilige Strategie entwickelt wird, können dabei durch klare Prioritätensetzung nutzbar gemacht werden und fundamentale Vorteile schaffen. In der Praxis aber, zuweilen als „Fahrt auf Sicht“ (FAZ 2015) bezeichnet, verliert solche mitunter politisch unerwünschte strategische Kontextualisierung, zu häufig, ihre vitale Rolle. Oder sie scheitert schlicht an der Entscheidung des Strategen, seine Energie auf kognitiv greifbare, unmittelbare Konfliktsituationen zu verwenden, anstatt sein Handeln durch jene größeren Kontexte zu konturieren, die durch die Annahmen der antagonistischen Natur von Politik nahegelegt