Strategie als Beruf. Maximilian Terhalle
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24 Zu Bismarck: Gall 1980, 23, 127–8, 729.
25 Kissinger nannte dies ‚the problem of conjecture‘.
26 Neben anderen sind hier Isaiah Berlins Klassiker „The Sense of Reality“ und „Political Judgment“ (1996, 1–53) einschlägig.
27 Bemerkenswerterweise kritisierte Friedrich Merz genau dies nicht anhand des Sicherheitsberaters der gegenwärtigen Bundeskanzlerin, sondern an ihr selbst. Wenn auch allgemeiner auf Politik bezogen, trifft seine Aussage auf Strategie zu: „Frau Merkel hat gesagt, Politik bestehe aus dem, was möglich ist und da widerspreche ich ernsthaft. Man muss in der Politik etwas möglich machen und etwas möglich machen wollen.“ Und fügte hinzu, nur dies stelle Führung in der Politik dar (zit. in FAZ 2019a).
28 Michael Doyle, neben seiner Tätigkeit als Professor bei Columbia University ausgewiesener Langzeitberater der Vereinten Nationen, brachte dies dem Autor gegenüber 2008 als Ansporn so auf den Punkt: „Ich habe das selten geschafft. Aber wenn Du richtig gut sein willst, musst Du in der Lage sein, Dein Wissen nicht anlassbezogen auszurichten, sondern anlassbezogen Wissen abrufen und anwenden zu können. Dazu gehört insbesondere, Dein Wissen mit 600 Wörtern auf den Punkt zu bringen.“
Um die mitunter nicht-existente Beziehung zwischen Politik und diesbezüglichen Wissenschaftsdisziplinen wissend, ermunterte der Autor dieses Buches Auswahl-, Tenure-track- und Stiftungskommissionen, erfolgreiche Beispiele der Einflussnahme auf praktische Strategiebildung als gleichgewichtige Kernkriterien bei der Auswahl/Beförderung einzuführen (Terhalle 2016; ähnlich Walt 2012, 41).
29 Ho rekurriert auf Hassem Talebs ‚black swan‘ und spinnt den Faden von dort aus ideenreich weiter: „The black elephant is the evil spawn of our cognitive biases. It is a cross between a black swan and the proverbial elephant in the room. The black elephant is a problem that is actually visible to everyone, but no one wants to deal with it, and so they pretend it is not there. When it blows up as a problem, we all feign surprise and shock, behaving as if it were a black swan“ (2017).
I.
Grundbegriffe strategischen
Denkens
2
Konzeptionen – Strategie
und Strategielehre
Einleitung
Die Sprachlosigkeit deutscher Politiker1 und Intellektueller war bemerkenswert, als der US-amerikanische Präsident Donald Trump zeitweilig die NATO für obsolet erklärte, indem er die Fakultativform der Verpflichtungen aus Artikel 5 des Nordatlantikvertrags hervorhob. Als Henry Kissinger dann kurzzeitig Trumps pro-russische Ausrichtung unterstützte, um Chinas militärisches internationales Erstarken durch Entzug seines einzigen starken Verbündeten zu konterkarieren und China damit zu isolieren, hätte dies unausweichlich das Kollabieren der Russlandpolitik des Kabinetts Merkel III – da ohne militärische US-Deckung – zur Folge gehabt (Roloff und Tiede 2016; Pomfret 2016). Bis Mitte des Jahres 2017 schien sich die aus schierer Verzweiflung (da aus Unkenntnis von Trumps Weltsicht) geborene Hoffnung vieler Transatlantiker zu erfüllen, der Präsident nähere sich dem hergebrachten Verständnis von Artikel 5 wieder an. Aber bereits Trumps Rede im September vor den Vereinten Nationen wiederholte seine unmissverständliche Mahnung an Verbündete, sich nicht auf „weit entfernte Länder“, ergo die USA, zu verlassen (United Nations General Assembly 2017, S. 10). Ein durchgestochenes Geheimpapier der NATO vom Oktober, das das Bündnis für nicht verteidigungsfähig erklärte, zeigte dann wie im Brennglas die ganze Ohnmacht deutscher Sicherheitspolitik auf (FAZ 2017). Dass Sigmar Gabriel im Dezember 2017 von der Notwendigkeit einer „strategischeren Außenpolitik“ (Gabriel 2017) sprach, beleuchtete nur den überfälligen Charakter der kommenden Debatte. In dieser wird es um nicht weniger als den Wesenskern deutscher und europäischer Sicherheit gehen. Die Absenz freilich einer systematischen Debatte über Strategie überlässt diesen Kern in unguter Weise der Tagespolitik (wiewohl diese unbestreitbar den Takt des politischen Lebens in Berlin bestimmt).
Dieser Artikel versteht sich deshalb als erster Aufriss eines Forschungsthemas, das in Deutschland bis heute vernachlässigt und nicht systematisch bearbeitet worden ist. In diesem Sinne bietet der Aufsatz einen knappen Überblick über einige wesentlichen Aspekte zum Thema Strategie.2 Bei der Benennung des Forschungsgegenstands wird hier nicht die wörtliche Übersetzung von Strategic Studies adoptiert, sondern das Fach als Strategielehre bezeichnet.3
Die Ausführungen sind folgendermaßen gegliedert: Zunächst wird, im zweiten Abschnitt, dargelegt, warum und wie es überhaupt zu dem ausweislichen Mangel an Strategielehre in Deutschland gekommen ist. Sodann werden die Wurzeln der antagonistischen Natur der Strategielehre im dritten Abschnitt dargelegt, ohne deren nicht deterministische Konnotation zu übersehen. Im vierten Abschnitt wird gezeigt, wann die Anwendung von Strategien überhaupt notwendig wird und warum die Konfliktnähe der Strategielehre keineswegs und ausschließlich bedeutet, dass ihr Ansatz erst beim Ausbruch von Gewalt Geltung erhält, sondern Strategieplanung potentielle Konflikte zu antizipieren sucht und deshalb bereits zu Friedenszeiten beginnt. Im nächsten, fünften Abschnitt hebt der Aufsatz einige der klassischen Einsichten Clausewitz’ hervor und zeigt ihre heutige analytische Vitalität auf. Eingebettet in diese heute besonders international stark erforschten Ideen Clausewitz’ wendet sich der Artikel der in Deutschland ebenfalls weitgehend vernachlässigten angelsächsischen Literatur in einem sechsten Abschnitt zu. Dies ist nicht zuletzt notwendig, weil deren Autoren zu wesentlichen Ideengebern bei der systematischen Erfassung moderner Strategielehre geworden sind. Erst aus dieser Synthese klassischer und moderner Literatur zum Thema lässt sich Strategie definieren als langfristige Konfliktplanung und akute konfliktangetriebene Entscheidungsfindung in einem dies wird im siebten Abschnitt präsentiert. Im Anschluss, dem achten Abschnitt, macht die Analyse sechs Vorschläge, wie Deutschland konkret von der hier umrissenen Strategielehre profitieren könnte. Abschließend fasst der Artikel die Ergebnisse zusammen und fordert, dass ein neu zu schaffendes Internationales Strategiekolleg, das Sigmar Gabriels Forderung nach einer strategischeren Außenpolitik aufnimmt, am Wissenschaftszentrum Berlin angesiedelt werden sollte.
1. Land ohne Strategie(lehre)
Zunächst: Warum gibt es in Deutschland einen Mangel dessen, was hier als Strategielehre bezeichnet wird? Aus dem Zweiten Weltkrieg kommend, entschloss sich das nicht souveräne Westdeutschland, seine politische Verfasstheit, Außenpolitik und Sicherheit in Europa und mit Amerika zu verankern. Ostdeutschlands Kommunisten folgten ihrer Ideologie und unterwarfen sich der Sowjetunion. Den Glanz des Wirtschaftswunders konnte Bonn über die Jahre hernach nur erringen, weil seine Gesellschaft – und Exportmöglichkeiten – vom amerikanischen Militär geschützt waren. Die Bundeswehr spielte darin zwar die gewichtige Rolle des zentralen Truppenstellers, aber die Bundesregierungen blieben in den großen Fragen der nuklearen Auseinandersetzung der Supermächte ein, wenn auch meist sehr geschätzter, Befehlsempfänger (Heuser und Stoddart 2017, S. 455).4
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