Irren ist göttlich. Daniel Sand
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Engelsbienen sorgten in der Nacht für Licht. Unzählige Wanderer, die sich in den Rokonischen Sümpfen verirrt hatten, folgten ihnen dankbar durch die Finsternis. Und damit tiefer und tiefer in den Sumpf. Niemand von ihnen kehrte je zurück. Hier draußen, in der Wildnis, wo jeder falsche Schritt der letzte sein konnte, wo noch Fabelwesen durchs Unterholz schlichen und Giftpflanzen geduldig auf ihre Opfer warteten, gab es keine Rettung für sie.
Steine, Äste und Quellen konnten den Tod bringen und wer nicht von Engelsbienen ins Verderben geführt wurde, lauschte womöglich dem Gesang ferner Koboldchöre, gab sich ganz ihrer Musik hin und merkte nicht, wie ihn der Sumpf langsam verschlang. Jedes Geräusch aus den Nebelschwaden konnte eine zuschnappende Falle sein, jeder Pfad im Rachen eines Moorlöwen enden. Manche Sumpfgeister nahmen die Gestalt von Menschen an, um Wanderer in Sicherheit zu wiegen und der süßliche Duft betörender Blumen war nicht selten ein lähmendes Gift. Niemand sollte nachts alleine in den Rokonischen Sümpfen sein … ein Lied pfeifend, hüpfte Thariel von Stein zu Stein und von Wurzel zu Wurzel, immer darauf achtend, nicht auf den feuchten Untergrund zu treten. Zu oft stellte dieser sich als hungriger Treibsand heraus.
Heute Nacht gab es keine Engelsbienen, die ihn verwirren konnten. Das fahle Mondlicht reichte aus, um sich den Weg zu bahnen. Manchmal versuchte eines der Sumpfwesen jedoch, ihn ins Unterholz zu locken, indem es die Schreie von Menschen und das Winseln von Tieren nachahmte. Doch er pfiff weiter sein Lied und störte sich auch nicht an den drei giftgrünen Augen, die ihm eine Weile lang folgten, bevor ein großes rotes Auge auftauchte und es zu einem Kampf in der Düsternis kam. Thariel vermutete hinter den grünen Augen eine Sumpfschlange und hinter dem roten einen Zyklopenbären.
Irgendwann leuchtete ein fernes Licht auf. Ein Haus. Und noch ein Haus. Ein ganzes Dorf. Schon blieb die Wildnis zurück und das Land öffnete sich, wurde breiter und freundlicher. Wald folgte auf Sumpf und fester Untergrund auf feuchten Morast. Als Thariel das Moor endgültig verlassen hatte, drehte er sich noch einmal um. In der Dunkelheit leuchteten Dutzende Augenpaare und es fauchte und knurrte im dampfenden Wasser und in den grauen Ästen toter Bäume.
Thariel liebte es, die Augen zu zählen.
»Wo warst du schon wieder?«
Er zuckte zusammen und versteckte etwas unter seinem Hemd, als Lydia plötzlich mit verschränkten Armen hinter ihm stand: »Wir waren bei meinem Vater zum Essen verabredet! Und was versteckst du da?«
Lydia hatte ihre blonden Haare zu einem Zopf geflochten und trug ein grünes Kleid. Er wusste, dass es ihr nicht gefiel, wenn er durch die Sümpfe wanderte. Aber er wollte das nicht aufgeben. Er liebte die Natur und er nahm es den Monstern nicht übel, dass sie ihn fressen wollten. So etwas sollte man nie persönlich nehmen, fand er. Doch Lydia nahm Sumpfkrokodilen, Heckenadlern und den Flammenzahnschnecken genau das übel.
Aber jetzt war die Welt wieder in Ordnung. Die Monster in ihrem Sumpf und Thariel in seinem Dorf.
»Für dich!« Er zog unter dem Hemd nun ein grünlich schimmerndes Etwas von der Größe einer Tontafel hervor, das einen Geruch verströmte, als würde es schwitzen.
»Igitt, was ist das?« Lydia fasste es nicht an.
»Rinde vom Marathonbaum!« Thariel sprach es mit Stolz aus, weil er wusste, wie schwer es war, einen Marathonbaum zu fangen. Es handelte sich immerhin um die ausdauerndste und zäheste Baumart, der noch dazu die eigenen Wurzeln als verwirrende Zahl von Füßen dienten, statt sich tief ins Erdreich zu graben.
Thariel hatte seinen Marathonbaum mindestens zwei Stunden verfolgt und dachte zwischendurch nicht mehr, dass er ihn einholen würde und er hätte es wohl auch nicht geschafft, wenn der Baum nicht einen Krampf erlitten hätte. Also konnte sich Thariel eine Rindenfläche nehmen, wobei er sich für eine entschied, die ohnehin schon schlapp herunterhing. Durch die schweißtreibende Flucht hatte die Rinde natürlich einen starken Eigengeruch entwickelt, was Thariel nicht störte.
»Schön, leg sie doch zu den anderen Sachen aus dem Sumpf, die du immer so mitbringst«, meinte Lydia unbeeindruckt und merkte erst zu spät, dass Thariel auf die Knie gegangen war und ihr die Rinde jetzt mit beiden Händen entgegenstreckte.
Mit dem Grün eines Tintenpilzes hatte er auf die Rinde geschrieben: Willst du mich heiraten, Lydia? Dazu die Antwortmöglichkeiten Ja und Nein.
Lydia wurde erst rot und dann blass. Dann lächelte sie und nahm ihm mit einem leichten Ausdruck von Ekel die Rinde aus der Hand.
»Komm, lass uns ins Haus gehen, mein Vater wartet schon.«
Sie nahmen sich an der Hand und liefen einige Schritte, bevor Thariel fragte: »Und? Wie hast du dich entschieden?«
»Lass mich darüber nachdenken.«
»Was sagt dein Herz?«
»Nichts, Thariel, mein Herz kann nicht sprechen.«
Sie gingen nun etwas schneller durch das Dorf, in dem sie beide geboren und aufgewachsen waren. Lydia am einen Ende dieser Siedlung mit zwölfeinhalb Häusern, er am anderen. Ein größerer Abstand war nicht möglich. Deswegen sagten sie oft im Spaß, dass er aus dem nördlichen Teil käme und sie aus dem südlichen. Zumindest er sagte das immer. Haus zwölfeinhalb war schon zur Hälfte in den Sumpf gerutscht und es war absehbar, dass es irgendwann vollständig verschluckt werden würde. Dieses Haus gehörte Thariel.
Das Dorf selbst befand sich auf einer Lichtung, die von drei Seiten von Wäldern umschlossen wurde, deren Bäume bis hinauf in die Wolken reichten. Erst dort oben berührten sich ihre Wipfel. Manche Dorfbewohner hatten deswegen in ihrem Leben noch keine Baumkrone gesehen und kannten nur diese mächtigen Stämme und gewaltigen Äste. Dass die Wälder hier eine solche Höhe erreichten, lag einerseits an der Abgeschiedenheit und andererseits daran, dass es sich um Himmelsbäume handelte. Sie wuchsen ein Leben lang und sie wurden sehr alt. Es gab Exemplare, die noch nie ein Mensch bestiegen hatte. Es hieß, dass manche eine Höhe von 10.000 Metern erreichten. Baumsteiger waren besessen davon, möglichst viele Erstbesteigungen von Himmelsbaumwipfeln für sich zu reklamieren. Aber das Sumpfdorf lag so abgeschieden, dass sich von diesen Extremsportlern bisher keiner hierher verirrt hatte – oder womöglich verspeisten Tiere, Pflanzen und Fabelwesen der Sümpfe sie auch bei der Anreise.
Auf der anderen Seite wurde das Dorf von eben diesem Sumpf begrenzt, dessen Nebelbänke wie Geisterschiffe über dem grünlichen Morast schwebten. Graue Bäume ragten als traurige Pfähle aus der Düsternis und bei der von Algen, Schlick und Moos bewachsenen Uferlandschaft konnte man nie sicher sein, ob beim nächsten Schritt der scheinbar feste Boden nachgab.
Im Ort selbst gab es eine Feuerstelle und einen Brunnen, die das Zentrum darstellten. Ansonsten bauten die Bewohner in ihren kleinen Gärten alles selbst an, was sie benötigten. Es gab auch eine kleine, umzäunte Weide mit drei Kühen und fünf Schafen. Doch die zahmen Tiere vor den hungrigen Raubtieren aus dem Himmelswald zu beschützen, war zeitaufwendig und gefährlich. Auch wenn