Irren ist göttlich. Daniel Sand
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Irren ist göttlich - Daniel Sand страница 5
»Bleib stehen!«, schrie einer und Thariel erkannte die Stimme. Es war der Schuster Reubig, der ihn da zusammen mit einem anderen Bewohner einfangen wollte. Thariel rannte aus dem Dorf hinaus und hörte plötzlich ein seltsames Surren in der Luft, das er sich erst erklären konnte, als das mit kleinen Steinen beschwerte Netz direkt neben ihm gegen einen Feuerpilz krachte, aus dem daraufhin etwas Lava quoll. Thariel verstand die Welt nicht mehr, Reubig hatte ihm gerade gestern noch eine zerbrochene Vase gebracht und ihn für heute zum Sumpfangeln eingeladen. Statt mit ihm zusammen am Ufer zu sitzen, wurde er nun von ihm gejagt. Er achtete kaum darauf, wohin seine Füße traten, die ihn immer tiefer ins Moor führten. Nur weit weg von diesem Netz und dieser Schlinge. Bäume, Wurzeln, Sumpf und Pfad verschwammen, wurden zu einem und dann wieder zu vielen. Irgendwo dampfte es, irgendwo knurrte es, irgendwo schnappte etwas nach ihm.
Thariel schaute sich kurz um und in diesem Moment rutschte er auf einer Schneekastanie aus und fiel einen Abhang hinunter, direkt in den wabernden Sumpf hinein, der ihn gierig schmatzend festhielt und bei jedem Befreiungsversuch mehr in die Tiefe zog. Er fühlte den grünen Schlick schon an seinem Kinn und roch die Fäulnis des toten Gewässers. Er wurde noch weiter hinab gezogen und sein Mund verschwand im Morast. Längst hatte er den Kampf verloren und konnte nur noch seinen Kopf so halten, dass seine Nase möglichst lange über der Oberfläche blieb. Sein linker Arm ragte wie ein Ast hervor, der stumm nach Hilfe rief. Dann machte es einen weiteren Ruck und Thariel tauchte ganz unter. Nur noch seine Hand war zu sehen und vielleicht seine Regenwolke, wie er voller Bitterkeit dachte. Graue Algen streichelten um sein Gesicht, während ihm die Luft ausging. Ihm wurde schwarz vor Augen und er konnte spüren, wie er das Bewusstsein verlor.
Das war das Ende …
Eine mächtige Pranke, die nicht zu einem Menschen gehörte, griff seine Hand und zog ihn mit schierer Kraft aus dem Sumpf, der sich heftig dagegen wehrte, seine sicher geglaubte Beute freizugeben. Kaum, dass Thariel am glitschigen Ufer saß und noch schwer atmete, wurde er schon wie ein Sack Kartoffeln auf die Schulter seines Retters geworfen, der stumm und mit langen, schweren Schritten durch die Sümpfe schritt. Thariel bekam von der Wanderung nicht viel mit, da er vor Schwäche immer wieder ihn Ohnmacht fiel. Irgendwann erreichten sie eine kleine Lichtung und Thariel wurde abgesetzt. Er war über und über mit grauen Algen bedeckt, die er nur mühsam und nicht allzu erfolgreich, entfernte.
»Was machst du nur für Sachen, Junge!«, sprach der Retter mit tiefer Stimme, in der kein Groll zu hören war, sondern nur Sorge. Erst als er diese Stimme hörte, kam Thariel wieder richtig in dieser Welt an. Es war Günter der Golem, der ihn gerettet hatte. Er bewachte das Dorf in der Nacht und dafür vertrieben ihn die Bewohner nicht bei Tag. Niemand wusste, wer zuerst hier gelebt hatte, er oder die Menschen. Für ihn sprach, dass sich kein Mensch an eine Zeit vor Günter dem Golem erinnern konnte, aber andererseits dauerte ein Golemleben auch länger als drei Menschengenerationen und es war nicht auszuschließen, dass die Ururgroßeltern der heutigen Bewohner ihn eines Tages willkommen hießen. Im Grunde spielte es keine Rolle, aber »Und was war zuerst da, Golem oder Mensch?« gehörte neben »Wie findest du das Wetter?« zu den beliebtesten Gesprächsthemen am Dorfbrunnen.
Der Golem ließ sich auf einem morschen Baumstumpf nieder, der mit einem kaum hörbaren Knirschen unter seinem Gewicht zerbrach. Wenige Meter weiter befand sich ein moosbewachsener Stein, der als Sitzgelegenheit bessere Dienste leistete. Thariel blieb einfach stehen. Sie beide einte ein besonderes Band. Günter war die erste Person, an die Thariel sich erinnern konnte. Er musste damals etwa zwei Jahre alt gewesen sein und Günter hatte ihn in einem Korb über eine duftende Blumenwiese getragen. Vielleicht hatte er deswegen niemals Angst vor diesem Koloss gehabt. Günter der Golem überragte alle Dorfbewohner um mindestens zwei Köpfe und hatte einen doppelt so breiten Brustkorb wie die anderen. Sein Körper bestand aus Sand, weswegen er einen gewissen Respekt vor Wasser hatte.
»Danke«, meinte Thariel nach einer langen Weile.
»Ich hatte dich rennen sehen, anders als du sonst rennst. Also bin ich besser mal hinterher.«
Thariel entfernte mit spitzen Fingern mehrere Algen von seiner Brust.
»Was ist das?« Ein breiter Finger, deutete auf die Regenwolke.
»Nichts«, blockte Thariel ab.
»Ist das ein …« Auch der Golem sprach es nicht aus.
»Glaub ich nicht.«
»Die Dorfbewohner wollten dich deswegen fangen, deine eigenen Freunde«, erinnerte ihn der lebende Sandberg, »sie haben Angst vor dir!«
»Tja, da kann man wohl nichts dran ändern. So sind wir Menschen eben. Wir können von einem Moment zum nächsten zu Feinden werden.«
»Es liegt an dem da über deinem Kopf. Du musst ins Dorf zurück und dich der Diagnose3 stellen!«
»Nicht nötig, das geht vorbei.«
Der Golem schüttelte langsam den Kopf. Aus zwei schwarzen Augenhöhlen blickte er Thariel lange an. So lange, dass Thariel wieder über etwas nachdachte, was ihn schon als Kind beschäftigt hatte. Sind das überhaupt Augen oder sind es nur Löcher im Sand? Auf eine seltsame Art hatte diese Augenpartie aber eine sehr beruhigende Ausstrahlung. Egal, ob sie nun wirklich Augen beherbergten oder nur aus zwei Löchern bestanden.
»Ich habe deinem Vater versprochen, dich vor Dummheiten zu bewahren!«
»Am Sumpf wachsen großartige Pflanzen, die gegen solche Krankheiten helfen. Die geh ich jetzt pflücken.« Thariel stand auf und wollte sich wieder auf den Weg machen. Nicht zurück ins Dorf, sondern weiter in den Sumpf. Nur nicht ins Dorf, zur Diagnose.
»Thariel!« Günters Stimme wurde noch etwas tiefer, »du wirst dich der Diagnose stellen!«
»Nein!« Thariel verschränkte die Arme.
»Zwing mich nicht!«, kam es mit tiefer Stimme zurück.
»Zu was?«
»Das willst du nicht wissen, zwing mich einfach nicht!« Der Golem erhob sich und blickte nun aus der Höhe zu Thariel hinab, der den Sand roch und an seine Kindheit dachte. Günter roch immer nach Kindheit.
»Ich habe nein gesagt. Die Wolke ist schon kleiner als gestern.«
»Du zwingst mich?«
»Mach, was du willst!«
»Ist das dein letztes Wort?« Günter hatte sich zu Thariel hinuntergebeugt. Selbst jetzt konnte er nicht sagen, ob und was da in den Augenhöhlen saß. Anstatt zu antworten, zuckte Thariel mit den Schultern. Entsetzt hörte er dann ein Geräusch, das sich anhörte, als ob Lehm auseinanderbricht und schon stand Günter ohne Kopf vor ihm. An seinem langen Arm hielt er den Kopf fest, der nun über dem Sumpf baumelte.
»Tu mir das nicht an, Thariel, bitte! Tu, was er sagt!«, flehte der Kopf.
»Ja, schon gut, ich werde mich der Diagnose stellen«, rief Thariel verstört, »nur nimm den Kopf da weg«.
Wütend lief er mit dem Golem zurück.
»Aber du verhältst dich natürlich sehr erwachsen«, schimpfte Thariel, während sich Günter den Kopf wieder aufsetzte. Wobei er jetzt etwas weiter rechts auf der Schulter hing, was ihn aber nicht zu stören schien. Er ging auch nicht auf Thariels Vorwürfe ein, sondern pfiff leise