Jedermannfluch. Manfred Baumann
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Jedermannfluch - Manfred Baumann страница 11
Merana horchte auf. Er dachte an die Namen der beiden Schwestern. Eine Ahnung beschlich ihn. »Wagnerfan? Hat Ihre Mutter Sie beide deswegen so benannt?« Nun kehrte das Lächeln zurück in ihre dunklen Augen. Sie nickte. »Ja, das ist der einzige Grund dafür. Aber es hätte weit schlimmer kommen können. Brünnhilde oder Wellgunde hat sie uns immerhin erspart.« Das Lächeln erlosch. Merana war kein ausgesprochener Wagnerkenner, bei Weitem nicht. Aber ein wenig kannte er sich schon in dessen Opernwelt aus. Der Name Senta stammte aus der romantischen Geschichte rings um den »Fliegenden Holländer«. Senta verliebt sich in den geisterhaften Seefahrer und erlöst ihn von dessen Fluch durch ihren eigenen Tod, wie er wusste. Und Isolde ist die irische Königstochter aus einer anderen Wagneroper, die sich unsterblich in den Helden Tristan verliebt.
»Lebt Ihre Mutter noch?«
Ihr Kopfschütteln war deutlich zu bemerken. Die rötlich schimmernden Locken zuckten.
»Leider nein, sie ist vor vier Jahren gestorben. Auch mein Stiefvater lebt nicht mehr. Er starb vor zwei Jahren in Melbourne, wie ich von Isolde erfahren habe.«
»Die Gründe, warum Sie und Ihre Schwester sich schon seit Ihrer Kindheit nicht sehr nahe standen, tun im Augenblick nichts zur Sache. Aber wie war es in der Gegenwart? Tauchten irgendwelche Probleme auf, wenn Sie miteinander auf der Bühne standen? Gab es Spannungen?«
Die freundliche Miene im Augenspiel kehrte zurück. Sie beugte sich leicht nach vorn.
»Aber nein, Herr Merana, so schlimm dürfen Sie sich das auch nicht vorstellen. Wir hatten immer wieder Kontakt in den letzten Jahren. Wir gingen einander ja auch nicht aus dem Weg. Sonst wäre ich wohl gestern auch nicht zur Feier ins ›K+K‹ mitgekommen. Unser Umgang war vielleicht etwas reservierter als unter Verwandten üblich. Da zeigten sich halt zwei Halbschwestern, die einander zwar nicht viel zu sagen hatten, aber die schon wussten, wie man sich professionell und zivilisiert verhält.« Plötzlich richtete sie sich auf, ihr Oberkörper straffte sich.
»Halbschwester!« Sie klopfte sich gegen die Stirn. »Mein Gott, unsere Mutter ist gestorben, somit bin ich ja die einzig lebende Verwandte. Ich muss mich augenblicklich um die Bestattung und all den Kram kümmern, der damit verbunden ist.« Sie sah ihn direkt an. »Wann geben Sie den Leichnam meiner Schwester frei?«
Er zuckte leicht mit den Schultern.
»Das wird die Staatsanwaltschaft in Absprache mit der Gerichtsmedizin entscheiden.«
Die freundliche Miene erlosch. Ein rätselhafter Ausdruck schlich sich in ihre Augen. Ihr lauernder Blick erinnerte ihn an das Porträt einer ihrer Bühnenfiguren, das er vor Kurzem gesehen hatte. Da war sie in die Rolle der antiken Medea geschlüpft.
»Ich weiß zwar immer noch nicht, was meiner Schwester genau zugestoßen ist. Aber es dürfte sich nicht bloß um einen bedauerlichen Unfall handeln. Sonst würde nicht die Kriminalpolizei involviert sein. Können Sie mir wenigstens dazu mehr sagen, Herr Kommissar?« Die letzten Worte hatte sie lauter gesprochen, dabei jede Silbe extra betont. Als stünde sie immer noch als Medea auf der Bühne. Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich hoffe, dass ich Ihnen bald mehr Einblick verschaffen kann, Frau Laudess. Im Augenblick geht das leider noch nicht. Werden Sie Salzburg verlassen? Wenn ja, bitte ich Sie, mir bekannt zu geben, wo ich Sie erreichen kann.«
Nun warf ihm Medea einen nahezu verächtlichen Blick zu. »Ich bleibe natürlich hier. Erstens habe ich mich um das Begräbnis zu kümmern. Und zweitens habe ich morgen zwei Termine. Vormittags mit den Festspielfreunden und abends die nächste ›Jedermann‹-Vorstellung.«
»Sie wollen sich tatsächlich morgen zum Domplatz begeben und auftreten?« Ihre Ankündigung verblüffte ihn. »Werden Sie das schaffen, Frau Laudess? Vielleicht sollten Sie besser überlegen …«
»Hier gibt es nichts zu überlegen, Herr Kommissar.« Sie schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Ich bin Schauspielerin. Das ist mein Beruf. Meine Gefühlslage, welcher Art auch immer, hat weit hinten anzustehen. Das Publikum interessiert nicht, welchen Launen oder sonstigen Schwankungen ich gerade ausgesetzt bin. Es will mich auf der Bühne sehen. Und zwar in meiner Rolle! Deshalb spiele ich!« Sie griff nach der Karaffe und schenkte sich erneut das Glas voll. Im Trinken beruhigte sie sich langsam. Das war ihr deutlich anzusehen. Medea zog sich zurück. Die Augen blickten wieder freundlicher. Jetzt noch ein ebenso verschmitztes wie gewinnendes Lächeln, und schon hätte er wieder die Buhlschaft mit all ihren Reizen vor sich, dachte Merana. Sie will also tatsächlich morgen auftreten? Er lehnte sich zurück. Ein tragisches Ereignis fiel ihm ein, über das er viel gelesen und noch mehr nachgedacht hatte. Der österreichische Schauspieler und Publikumsliebling Maxi Böhm war ihm schon in seiner Kindheit vertraut gewesen. Er hatte oft zusammen mit Großmutter Radiosendungen des begnadeten Komödianten erlebt, später auch eine ganze Reihe von Fernsehsendungen. Maxi Böhm hatte Tragisches erlebt. Innerhalb eines einzigen Jahres hatte er zwei seiner erwachsenen Kinder verloren. Die Tochter stürzte in der Schweiz bei einer Bergwanderung ab. Im Jahr darauf musste die Familie auch noch Sohn Max begraben. Er hatte sich das Leben genommen. Für Maxi Böhm war es eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit gewesen, trotz der schlimmen Trauerfälle weiterhin aufzutreten. Auch wenn er wegen der furchtbaren Verluste unter schweren Depressionen litt. Er hatte ständig Angst davor, dass sein Publikum aufgrund seiner Schicksalsschläge nicht mehr über ihn lachen könnte.
Deshalb spiele ich! Denn das ist mein Beruf. Das bin ich!
Er hatte es eben gehört aus dem Mund einer begnadeten, großen Charakterdarstellerin. Mein Publikum will mich auf der Bühne sehen!
Bestand so viel Unterschied zwischen dem längst verstorbenen Maxi Böhm, der großen Schauspielerin, mit der er am Tisch saß, und ihm selbst? Auch er hatte einst, als man die Geliebte an seiner Seite tötete, ihm das Liebste genommen hatte, zu dem er sich hingezogen fühlte, sich nicht einfach in Trauer und Selbstmitleid verkrochen. Er hatte das getan, wozu es ihn tief in seinem Innersten trieb. Unwiderstehlich trieb! Er hatte genau das unternommen, bei dem er sich absolut sicher fühlte, wo er den Boden unter seinen Füßen spürte, das Einzige, das ihn tief in seinem Innersten ausmachte. Er hatte sich in das gestürzt, was er am besten konnte. Seine Polizeiarbeit. Er hatte angefangen zu ermitteln. Rastlos. Verzweifelt, aber unbeugsam. Und er hatte Erfolg gehabt.
Das bin ich!
Er spürte, wie ihm die Hitze in den Kopf kroch. Er griff nach dem Wasserglas, nahm einen tiefen Schluck. Es wurde allmählich Zeit zu gehen, das spürte er. Er erhob sich. Sie blickte ihn an. Dann stellte sie die Frage, die er schon bei seiner Ankunft erwartet hatte.
»Wann kann ich den Leichnam … Ich meine, wann kann ich meine Schwester sehen, Herr Kommissar?«
»Sobald Sie sich dazu in der Lage fühlen, Frau Laudess.« Er erklärte ihr behutsam, dass man sie ohnehin bald in die Gerichtsmedizin bringen würde. Es galt noch einen offiziellen Akt zu erledigen. Man würde sie als nächste Verwandte bitten, offiziell zu bestätigen, dass es sich bei der Toten tatsächlich um ihre Schwester handelte. »Und wenn Ihnen sonst noch etwas einfällt, das uns vielleicht weiterhilft, oder wenn eine Frage auftaucht, über die wir noch nicht gesprochen haben, dann können Sie mich gerne jederzeit anrufen.« Sie versprach ihm, das zu tun. Er verabschiedete sich und ging.