Jedermannfluch. Manfred Baumann
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»Guten Morgen, Martin.« Die Gerichtsmedizinerin hatte noch nicht einmal den Kopf gehoben. Offenbar wusste sie auch so, dass er sich behutsam näherte.
»Hallo, Eleonore.«
Er blieb stehen, ließ sich neben ihr nieder, stützte die Arme auf die Knie. Er vermeinte, zweierlei wahrzunehmen. Die entschlossen anmutende Ausstrahlung der Ärztin, die jeden Handgriff mit professioneller Routine setzte. Und zugleich glaubte er, eine Art Aura zu verspüren, die den Platz umgab, auf dem die Tote lag. Offenbar war die junge Frau mit dem Hinterkopf aufgeschlagen, stellte er fest. Die dunkle Lache auf dem Untergrund war nicht sehr groß. Das Blut war längst eingetrocknet. Die Augenlider der Leiche waren offen. Die gebrochenen Augen starrten glasig in den Himmel. Er richtete seinen Blick zur Ärztin. »Kannst du mir schon Näheres sagen, Eleonore?«
Die Medizinerin wandte sich ihm zu, dann wies sie mit dem Kopf zur ansteigenden Steintreppe. Die Stützmauer war an dieser Stelle etwa fünf Meter hoch.
»Es steht wohl fest, dass sie von da oben herunterfiel. Das lässt sich einerseits aus den Verletzungen nachvollziehen. Außerdem haben Thomas Brunners Leute entsprechende Spuren am Gesträuch entdeckt, dass am oberen Teil der Mauer wuchert. Wann die bedauernswerte junge Frau hier herunterstürzte, kann ich natürlich nicht exakt sagen. Dazu weiß ich wohl mehr, wenn ich sie auf meinem Untersuchungstisch in der Gerichtsmedizin habe.«
»Ich weiß, Eleonore …«
Sie ließ ihn nicht weiterreden, schnaubte kurz.
»Und ich weiß, geschätzter Herr Ermittlungsleiter, dass du wie immer jetzt schon eine Einschätzung von mir hören willst.« Ihre Stimme hörte sich ein wenig fauchend an.
Dem Kommissar war bewusst, wie sehr er die Medizinerin bisweilen zu dieser Vorgehensweise nahezu drängte. Aber Frau Dr. Eleonore Plankowitz hatte mit den von ihr so bezeichneten Einschätzungen in den meisten Fällen äußerst präzise gelegen, wie die späteren forensischen und labortechnischen Untersuchungen bestätigt hatten.
»Also gut, Martin, dann will ich mich dir zuliebe auch dieses Mal darauf einlassen. Ich schätze, der Tod der jungen Frau ist zwischen 23 Uhr und drei Uhr morgens eingetreten.« Sie wies auf die Tote. »So wie es sich auf den ersten Blick zeigt, hat sie sich beim Aufprall nicht nur einen Teil der hinteren Schädeldecke zertrümmert. Sie hat sich auch das Genick gebrochen. Sie dürfte also sofort tot gewesen sein. Die anderen an der Leiche sichtbaren Verletzungen, vor allem die Abschürfungen, hat sie sich beim Herunterfallen zugezogen. Sie passen auch alle zur äußeren Struktur an dieser Mauer. Bis auf die eine Verletzung, die ist etwas eigenartig.« Eleonore Plankowitz deutete auf die linke Gesichtsseite der Toten. Auf Höhe der Schläfe war eine längliche, etwa drei Zentimeter breite Blessur zu erkennen. Merana beugte sich nach vorn. Er bemühte sich, die Tote nicht zu berühren, auch wenn er Schutzhandschuhe übergestreift hatte. Er betrachtete aufmerksam die Stelle. »Was sind das für eigenartige dunkle Partikel in der Wunde?« Er richtete sich wieder auf.
»Das wüsste ich auch gerne«, antwortete die Medizinerin. »Ich halte das für Splitter. So wie die Wunde aussieht, könnte sie an dieser Stelle von etwas getroffen worden sein.«
»Du meinst Fremdeinwirkung?«
Die Ärztin zuckte mit den Schultern. »Kann sein, kann nicht sein. Ich finde, es reicht für das unprofessionelle Prozedere an Einschätzung an dieser Stelle. Nur noch so viel. Wie mir Thomas vorhin bestätigte …«
»… haben er und seine unermüdlich schuftenden Kollegen bisher nichts gefunden.«
Wie auf Stichwort war der Leiter der Tatortgruppe neben ihnen aufgetaucht und hatte mit einem satten Grinsen den Satz der Gerichtsärztin vollendet. Er reichte Merana die Hand.
»Hallo, Martin.« Er deutete nach oben. »Natürlich haben wir noch nicht jeden Quadratzentimeter des Geländes bis ins Kleinste durchsucht. Wie Eleonore ganz richtig bemerkte, gibt es bisher nichts, was wir als Quelle für diese eigenwillig geformten dunklen Gebilde ausmachen konnten. Aber wir sind auch noch lange nicht fertig. Wir suchen natürlich weiter. Und wenn da oben auch nur ein einziger Splitter existiert, der zu denen in der Kopfwunde passt, dann finden wir ihn!«
Daran hegte der Kommissar auch nicht die Spur eines Zweifels. »Wer hat die Tote entdeckt?«
Die Frage war an den Abteilungsinspektor gerichtet. Der zückte sein Notizbuch, blätterte darin. Der überwiegende Teil der Ermittler hielt mittlerweile längst jegliches Detail kriminalpolizeilicher Untersuchung auf Tablets fest oder auf ähnlichen multifunktionalen Digitalgeräten. Und das weltweit. Aber Abteilungsinspektor Otmar Braunberger benützte nach wie vor lieber Notizblöcke mit geringelter Halterung.
»Gefunden hat die Tote eine Frau Lotte Ramalla, 74 Jahre, pensionierte Kanzleiangestellte. Sie wohnt da drüben.«
Er deutete auf einen der gegenüberliegenden Hauseingänge.
»Sie wollte um halb sechs ihren Hund äußerln führen, so wie jedem Morgen.«
Halb sechs, dachte Merana. Da hatten eben die ersten Strahlen die obersten Felszacken des Untersberges berührt. Er hatte es beim Laufen gemerkt und sich gefreut.
»Die Dame war ein wenig verwirrt, als die alarmierten uniformierten Kollegen hier eintrafen, wie man mir berichtete. Ich werde später versuchen, nochmals in Ruhe mit ihr zu reden.«
»Gibt es sonst Zeugen?«
Der Abteilungsinspektor schüttelte den Kopf. »Bisher nicht, Martin. Ich habe schon einige Kollegen losgeschickt, um Leute aus der Nachbarschaft zu befragen. Nicht nur hier entlang des Stiegenaufgangs, auch drunten in der Gasse. Aber bisher hat noch keiner etwas gemeldet, das uns bei diesem Fall weiterhelfen könnte.«
Vielleicht traf das Wort »Fall« auch gar nicht zu, ging es Merana durch den Kopf, zumindest nicht aus kriminalpolizeilicher Sicht. Die junge Frau konnte auch aus völlig anderen Gründen über die Geländerbegrenzung des Stiegenaufgangs gestürzt sein. Ohne dass jemand dabei nachgeholfen hatte und somit ein Verbrechen vorlag. Bis jetzt wussten sie noch gar nichts dazu. Ja, ihr allseits geschätzter Chef hatte beim Namen Laudess sofort alle Alarmglocken läuten gehört. Daraufhin hatte er umgehend die stärkste Polizeibesatzung aufmarschieren lassen, wissend, dass sich sofort Medien und Öffentlichkeit auf diesen Vorfall stürzen würden, wenn durchdrang, dass es sich bei der Toten tatsächlich