Störtebekers Erben. Susanne Ziegert
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Читать онлайн книгу Störtebekers Erben - Susanne Ziegert страница 4
»Aber es muss doch möglich sein, von dieser öden Insel zu kommen«, zeterte die dickliche Frau in bunter Funktionsbekleidung. »Mein Mann ist Unternehmer, er hat schließlich wichtige Termine.« Der stille sehr dünne Gatte schwieg zu dem Lamento. Die Gattin zischte verächtlich. »Nicht mal einen Wellnessbereich gibt es!« Plötzlich verstummte sie.
Ein blonder Hüne im Karohemd mit Dreitagebart hatte sich den Weg von der mittlerweile sehr vollen Bar zu ihrem Tisch gebahnt und deutete eine leichte Verbeugung vor Margo an: »Die schöne Leuchtturmwärterin, welch Glanz in meiner bescheidenen Hütte.« Seine wasserblauen Augen hatte er wie Scheinwerfer auf Margo gerichtet, und seine Gedanken ließen sich leicht erraten, als sein Blick an ihrem Dekolleté hängen blieb.
»Ich bin Jo. Jo Prell, wie Jacques, aber mit P und zwei L«, sagte er dann und streckte erst Margo und dann David lässig seine Pranke hin, die anderen Gäste am Tisch bedachte er mit einem leichten Nicken.
»Malgorzata, kurz Margo«, stellte sie sich vor. Sie kannte den Wattrocker bisher nur aus den bunten Magazinen, in denen sie manchmal im Wartezimmer ihres Zahnarztes blätterte; dass er sich nun neben sie gesetzt hatte, passte perfekt in ihren Plan. An Seemannsgarn über Jo Prell fehlte es nicht, sie war natürlich auch davor gewarnt worden, dass er ein unverbesserlicher Casanova sei, der in jedem seiner Konzertorte mehrere Freundinnen habe. Es kam ihr aber durchaus gelegen, dass er offensichtlich mit ihr flirten wollte. Am besten reden lassen und ganz naiv auf sein Geplänkel einsteigen, dann wird er mehr Informationen preisgeben, als ihm am Ende lieb ist.
»Jetzt verstehe ich den Namen ›Seemannsgarn‹«, entgegnete sie.
»Was lässt Sie denn zu dieser überraschenden Schlussfolgerung kommen, schöne Frau?«, er warf ihr einen langen und eindeutigen Blick zu.
»Nun ja, Leuchtturmwärter sind ja leider ausgestorben. Und bescheiden ist die Hütte nur noch auf dem Foto.« Sie deutete auf eine Reihe Schwarzweißaufnahmen an der Wand, auf denen noch das alte Holzhäuschen mit Piratenflagge zu sehen war.
»Genau genommen sitzen wir jetzt noch hier«, erklärte der Musiker. Mit seiner rechten Hand skizzierte er vier Linien in der Luft und zeigte in Richtung der Wände des großen Mittelraumes. »Genau hier, das sind exakt zehn Mal drei Meter, der Grund, den mir mein Vater für mein Geschäft überlassen hat. Ansonsten hat er mich enterbt. Alles andere habe ich mir selbst erarbeitet, Jahr für Jahr ein Stück ausgebaut«, erklärte er voller Stolz. »Aber wenn mich mein Alter damals wegen der Musik nicht rausgeschmissen hätte, dann wäre ich heute nicht hier, wo ich bin.«
»Ja, manchmal kann ein Familienkrach auch Gutes bewirken«, pflichtete ihm Margo bei. »Dann sind Sie trotzdem Ihrer Insel treu geblieben?«, fragte sie, als eine dickliche blonde Frau mit Kochmütze an den Tisch trat, die den Wattrocker wütend anblickte und mehr forderte als fragte: »Kommst du bitte mal in die Küche, Schatz!«, was dieser ohne hörbaren Protest auch tat.
»Jaja, da weiß man, wer die Hosen anhat«, mokierte sich David über Jos Abgang.
Margo entdeckte auf dem Stuhl neben ihr etwas Weißes, das Jo aus der Tasche gerutscht war. Unauffällig schob sie ihre Handtasche darüber und steckte das verlorene Stück Stoff in die Tasche. Sie würde es sich später genau ansehen. Bisher war der Abend ganz gut gelaufen, jetzt konnte sie den kulturellen Höhepunkt des Insellebens genießen, jedenfalls sahen das die Ureinwohner so.
Eine Viertelstunde später setzte sich der Wattrocker mit seiner Gitarre auf die Bühne. Er begleitete sich selbst zu, wie er ankündigte, romantisch-depressiven Songs über die Gezeiten, die Natur, das Leben, die Liebe, die in seinen Liedern selten gut ausging, seinen Bruder, der zu früh gegangen war.
»Was war denn mit seinem Bruder?«, fragte sie David leise.
»Der hatte wohl einen Unfall im Watt, war vor meiner Zeit«, flüsterte er und verabschiedete sich dann. Margo hörte gebannt zu. Die poetischen Texte seiner Songs, die er mit seiner rauchigen Stimme vortrug, überraschten Margo. Sie hatte eher so eine Art Stimmungsmusik erwartet. Mittlerweile hatten sich die Tische geleert, da stimmte Jo mit einigen Fans noch das »Insellied« an. Es war eines der stimmungsvoll fröhlichen Lieder, die den Ruhm des Musikers begründet hatten, die er allerdings nur noch auf ausdrückliches Verlangen des Publikums spielte.
»Der Rausschmeißer«, scherzte einer der Wattführer. »Länger darf er nicht, da schimpft die Gattin.« Margo erschrak, als sie auf die Uhr sah. Schon nach eins, sie schnappte ihre Handtasche, nickte dem Künstler kurz zu und eilte zum Leuchtturm zurück. In nicht einmal sechs Stunden musste das Frühstück bereit sein. Doch der Abend hatte sich gelohnt, sie hatte etwas, das sie weiterbringen würde. Sie sah sich den Stoff genauer an, legte ihn in eine Plastiktüte und verstaute diese ganz unten in ihrem Kleiderschrank.
*** Holzfischen. Den Menschen des Meeres die Früchte des Meeres. Das hatte sein Großvater immer gesagt. Arm waren sie und ständig der Gefahr der tosenden See ausgesetzt, den Stürmen, den Wellen und den Fluten, die so viele von ihnen verschlungen hatten. Von alters her gehörte ihnen, was das Meer an ihre Küste spülte. Manches Mal hatte das ihren Vorfahren das Leben gerettet, wenn die Frauen nicht mehr wussten, womit sie ihre vielen Kinder am nächsten Morgen ernähren sollten und die Männer weit weg auf dem Meer oder eines Tages nicht mehr wiederkamen. Dann erbarmte sich der Wettergott und sandte ein Fass voller Heringe oder Brot, das eines der gestrandeten Schiffe mit sich geführt hatte. Nicht immer erreichte sie die rettende Gabe noch rechtzeitig, um alle Münder zu füttern, die Alten erzählten oft von den kleinen Särgen, die sie zum Festland brachten. Wann immer eine Ladung Holz über Deck gegangen war, fuhren die erwachsenen Männer der Insel zum Holzfischen. An Land wurden die Bretter und Balken in Stapel aufgeschichtet. Sie stellten dann einen kleinen Jungen mit dem Rücken zum Holz, sodass er es nicht sehen konnte. Von Stapel zu Stapel führten sie ihn, dann rief er jedes Mal den Namen einer Familie. So wurde Haufen für Haufen gerecht verteilt. In jedem Haus wirst du die Balken und Bretter finden, die über Bord gegangen sind. Denn das wenige Geld reichte gerade einmal für eine Handvoll Getreide für jeden von ihnen, und auf dem salzigen Fleckchen Erde wuchs nichts, womit sie ihre armseligen Hütten bauen konnten. Der Herr nimmt und der Herr gibt, sagte dann der Großvater.
Kapitel 3
Es war ein grausames Bild. Noch niemals in seinem Leben hatte der Inselbürgermeister Kai-Uwe König auch nur etwas vergleichbar Schreckliches gesehen. Eine Hysterikerin, hatte er gedacht, als ihn der Anruf erreichte. Die junge Frau, die mit ihren beiden Kindern und ihrer Mutter als Tagesausflüglerin auf die Insel gekommen war, weinte und schrie ins Telefon, und er wurde nicht richtig schlau aus dem Gestammel. Er hatte nur verstanden, dass sie etwas Schreckliches gesehen hatte und den Wattwagenfahrer Andrej, der in der Saison für ihn arbeitete, losgeschickt. Dieser hatte ihn gebeten, dringend an den kleinen Friedhof zu kommen. »Hier liegt Hein. Chef muss kommen sehen er selbst.«
Genauer gesagt lag Hein nicht, sondern sein blutiger abgetrennter Kopf steckte auf dem Geländer der kleinen Holzbrücke, die über den Sumpf zum Friedhof der Namenlosen führte. Ein großer Nagel war durch den Schädel getrieben, um den Kopf dort festzumachen.
Wortlos zeigte Andrej hinter den Gedenkstein, wo der Rest des Körpers lag, am kopflosen Hals hatte sich eine Blutlache gebildet. Die junge Frau, die ihn angerufen hatte, saß mit fast grünlicher Gesichtsfarbe auf der Wiese.
Kai-Uwe König wandte sich schnell ab, lange hätte er den Anblick nicht