Störtebekers Erben. Susanne Ziegert
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»Da sitzt uns der Senator persönlich im Nacken«, erklärte Roth. Das Ganze, so lockte er, habe auch eine angenehme Seite, der Tote liege auf der Insel Neuwerk, dem schönsten Stadtteil Hamburgs. »Nehmen Sie die Spusi und das ganze Team mit«, ordnete er an und fügte hinzu: »Ach ja, Sie fliegen mit der »Libelle 1«. Im Moment ist der Schiffsverkehr ausgesetzt. Genießen Sie den Ausflug, so etwas werden Sie nicht oft geboten bekommen. So schwer kann es nicht sein, auf einer Insel mit 30 Einwohnern einen Mörder zu finden.«
Rike folgerte, dass er mit der »Libelle 1« wohl einen der beiden Hubschrauber der Hamburger Polizei meinte. Diese wurden vor allem für die Suche nach Vermissten oder die Überwachung von Demonstrationen eingesetzt, sie hatte noch nie gehört, dass Kommissare der Mordkommission damit zum Einsatz geflogen worden waren.
Das Ganze musste tatsächlich dringend sein. Sie sollte mit Volker Hendrichs, einem erfahrenen Kriminaltechniker, schnellstmöglich losfliegen, zwei Kollegen sollten ihnen folgen.
Der Chef hatte ihr ausgerechnet Robert Galinowski zugeteilt, mit dem sie gemeinsam auf der Polizeiakademie gewesen war. Ein unangenehmer Wichtigtuer, der nichts konnte, als hohle frauenfeindliche Sprüche zu klopfen, und versuchte, sich damit zu profilieren. Sie waren während der Ausbildung mehrfach aneinandergeraten. Die andere Kollegin, Mareike Schmidt, kannte sie nur flüchtig, die junge Frau war erst vor zwei Wochen in ihre Abteilung versetzt worden. Eigentlich gehörten fünf Polizisten zu einer Mordbereitschaft, doch Roth hatte erklärt, dass er unmöglich mehr Mitarbeiter abstellen könne. Er selbst wollte die Ermittlungen von Hamburg aus koordinieren.
Rike fuhr ihren Rechner hoch und druckte eine Mail mit einem Briefing aus, das sie während der Fahrt lesen wollte.
Während des Gesprächs mit Roth hatte sie nicht zugeben wollen, dass sie keinerlei Vorstellung hatte, wo sich diese Insel eigentlich genau befand. Sie gab den Namen in einen Kartendienst ein und war erstaunt. Neuwerk lag ganz und gar nicht in der Nähe von Hamburg, sondern 100 Kilometer weiter nördlich vor Cuxhaven in der Nordsee. Trotzdem gehörte der Ort administrativ zu Hamburg-Mitte. Man lernte in dem Job doch fast jeden Tag etwas dazu, das schätzte sie an der Polizeiarbeit.
Sie packte ein paar Kleidungsstücke und ihren Laptop in einen Seesack, dann schnappte sie sich den Hundekorb und Spielzeug für Prinz und klingelte am Haus nebenan. Sie hatte Glück, ihre Freunde Carlos und Stefan waren zu Hause. Die beiden waren für Rike in den letzten Jahren so etwas wie Familienersatz geworden, vor allem, nachdem ihre geliebte Großmutter erkrankt und bald darauf gestorben war. Wann immer sie von einer Sekunde auf die andere zu einem Einsatz gerufen wurde, hatten sie Prinz in Pflege genommen und sich nie über seinen Mangel an Hundebenehmen beklagt. Rike war eine der Trauzeuginnen der beiden Männer, als diese vor einem Jahr geheiratet hatten, und die drei verbrachten Weihnachten und manche Feiertage gemeinsam. Carlos, der Tänzer war und aus Italien stammte, schwankte unter der Umarmung der kräftigen Pfoten und kraulte dem Rüden liebevoll den Kopf. »Mein Lieblingskuscheltier«, sagte er zärtlich. Und: »Natürlich nehmen wir ihn«, fügte er hinzu, ohne dass Rike überhaupt fragen musste.
Sie stellte den Korb in die Küche, wo sich Stefan gerade bei einem Kaffee in die Sonntagszeitungen vertieft hatte. Er las täglich drei überregionale Zeitungen und war stets auf dem neuesten Stand der Weltpolitik und der wichtigsten kulturellen Ereignisse.
»Kaffee, Gnädigste?«, fragte er. Gelegentlich zog er Rike mit ihrem adeligen Namen auf, dabei hatte sie sich weitgehend von ihrer Familie abgenabelt und verachtete die Gepflogenheiten ihrer adeligen Verwandten, die ihre Zeit auf »standesgemäßen« Bällen oder Jagdgesellschaften verbrachten und sich sogar noch wie im letzten Jahrhundert mit Ihresgleichen verheirateten. Die Ablehnung beruhte wegen ihrer Berufswahl allerdings auf Gegenseitigkeit.
»Nein danke, ich muss leider«, sie verabschiedete sich schnell, damit Prinz erst gar nicht in Versuchung kam, jämmerlich jaulend hinter seinem Frauchen herzulaufen. Zudem hatte sie aus dem Fenster den blau-silbernen Streifenwagen gesehen, der sie abholen und zum Flughafen Fuhlsbüttel in den Norden der Stadt bringen sollte. Die beiden jungen Kollegen, die sie fuhren, kannte sie nicht. Sie hatte Mühe, die beiden zu überzeugen, erst auf der Elbchaussee Blaulicht und Sirene einzuschalten und nicht die gesamte Nachbarschaft zu beschallen.
»Wir haben unsere Anweisungen«, beharrte der Fahrer, normalerweise würde die Fahrt fast eine Dreiviertelstunde dauern. Rike war froh, dass sie sich zumindest noch kurz vorbereiten konnte. Viele Informationen hatte ihr Roths Sekretariat nicht zukommen lassen. Es ging um einen männlichen Toten, Verdacht auf Fremdeinwirkung. Das war alles, was über den Fall in den Unterlagen stand. Die Wasserschutzpolizei hatte nicht ausrücken können, da zu diesem Zeitpunkt Ebbe war und sie die Insel daher nicht mit dem Schiff erreichen konnten. Stattdessen hatte der Ortsvorsteher, das war so eine Art Bürgermeister, den Tatort abgesperrt. Dieser Kai-Uwe König war ihr Ansprechpartner für alle Fragen der Unterbringung und Logistik. Sie und ihre Kollegen sollten für die Zeit der Ermittlungen im Leuchtturm wohnen, wo der Hamburger Senat über eine eigene Etage verfügte. Roths Sekretärin hatte noch einige Seiten mit allgemeinen Informationen über die Region hinzugefügt.
Der Streifenwagen hielt am grauen Hangar der Hubschrauberstaffel, und Rike sah, dass die »Libelle 1«, einer von zwei Helikoptern, schon abflugbereit vor der Halle stand und bereits den Rotor angeworfen hatte. Sie bemerkte, dass der Kriminaltechniker Volker Hendrichs auf einem der drei Passagiersitze Platz genommen hatte. Der Flugtechniker nahm ihr das Gepäck ab und bat sie, schnellstmöglich ihren Platz einzunehmen. Er half ihr, sich anzuschnallen und die Kopfhörer aufzusetzen, ohne die man sich an Bord wegen des Lärms nicht verständigen konnte. Über Funk begrüßte sie der Pilot und erklärte, dass er in wenigen Minuten starten werde. Gerade hatte der Tower den Abflug freigegeben, da sich der Wind vorübergehend gelegt hatte. Rike hatte über Funk gefragt, ob der Hubschrauber nicht auf die beiden Kollegen warten könne. Der Pilot erklärte, dass der Hubschrauber wegen der Technik nur drei Passagiere mitnehmen könne. Er musste ohnehin zweimal fliegen und dabei auf dem Rückweg auch den Toten nach Hamburg transportieren. »Voraussichtliche Flugzeit 30 Minuten, ich wünsche einen guten Flug«, hörte sie über Funk.
Der Helikopter stieg steil nach oben und folgte der Elbe, überflog Cuxhaven, die Elbmündung, bis sie schließlich das dunkelblaue aufgewühlte Wasser der Nordsee unter sich sahen. Der Pilot meldete sich nochmals:
»Vor uns bei ein Uhr können wir die Insel Helgoland sehen, unser Reiseziel liegt jetzt genau unter uns. Vorbereitung zur Landung.«
Der Hubschrauber flog einen Bogen um ein fast viereckiges Landstück unter ihnen, das langsam größer wurde. An einem Ende sah sie einen weißen Turm, der aussah wie ein Fernsehturm, an der Südseite einen burgartigen roten Klinkerturm mit einer grünen Kuppel, einer davon musste der Leuchtturm sein, in dem sie auch wohnen sollten. Sie erkannte eine Handvoll Häuser, die wie bunte Bauklötzchen um den Rand der Insel wie hingestreut lagen, in der Mitte rannten Kühe und Pferde wohl wegen des Geräuschs panisch über die Wiesen. Direkt neben dem roten Turm setzte die »Libelle« auf einem gepflegten Grasplatz sanft ihre Kufen auf.
Kaum war der Rotor zum Stehen gekommen, näherte sich ein etwa 50-jähriger Mann mit Cowboyhut, Reithose und Wachsjacke.
»Frau von Menkendorf?«, fragte er und stellte sich als Inselbürgermeister Kai-Uwe König vor. Dann sah er sie und ihren Kollegen ratlos an. »Wen wollen sie denn zuerst verhören?«
Rike schüttelte den Kopf. »Wir würden uns gerne schnellstmöglich den Tatort ansehen, solange es noch hell ist.«
Kapitel 5
Noch immer stand Andrej vor dem Absperrband am Weg hinter dem Deich und ließ die Besucher erst auf ausdrückliche