Zurück im Zorn. Christoph Heiden
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Wer auch immer angerufen hatte, kam ihr allerdings zuvor und unterbrach die Verbindung. Sie prüfte erneut das Display, wo neben dem Akkustand lediglich die Uhrzeit blinkte. 20.03 Uhr. Justin hatte recht; sie würde im Tischtennisraum nicht für Gerechtigkeit sorgen, zumindest nicht mehr heute. Typisch Anna. Sie legte das Telefon auf einen Stapel Formulare, lehnte sich zurück und betrachtete den Brief, den sie heute Morgen in der Post gefunden hatte. Schon beim Lesen war ihr kotzübel geworden, dann hatte sie ihn an die äußere Tischkante geschoben, möglichst weit weg von sich, nur einen Stups vom Papierkorb entfernt.
In der Hoffnung, den Brief ignorieren zu können, wandte sie sich ab und starrte mit übertriebener Konzentration auf den Laptop. Sie musste noch eine Mail an das Jugendamt schreiben. Ein Mädchen, das regelmäßig den Klub besuchte, hatte ihre im Müll versinkende Wohnung inklusive ihrer alkoholisierten Mutter gefilmt; daraufhin hatte ihre Freundin das Video ins Internet gestellt, ganz selbstlos, quasi als Beweis echten Mitgefühls.
Während Anna in Gedanken angemessene Sätze formulierte, aktivierte der Laptop den Ruhemodus. Der schwarze Bildschirm spiegelte nun das Büro wider: im Hintergrund das stete Chaos, im Vordergrund Annas Gesicht. Ihr rechtes Auge war deutlich kleiner als das linke, doch sobald sich ihre Miene veränderte, fiel es nicht mehr auf; zu ihrem Bedauern hatte sie die Angewohnheit, mit leblosem Ausdruck in der Gegend herumzustarren. Wie eine Eule – nur mit einem kleinen und einem großen Auge. Durch ihr kurzes Haar ähnelte sie ihrem Bruder oder eher einer 33-jährigen Version von ihm, einer Version, die niemals existiert hatte und niemals existieren würde. Mit einer impulsiven Geste schlug Anna gegen die Maus, und der Bildschirm leuchtete wieder auf.
Etwa zehn Minuten später schlenderte ihre Kollegin Sonja ins Büro; sie trug eine Pudelmütze, einen Parka und Doc Martens. In Gegenwart der knapp 50-Jährigen fühlte sich Anna frühzeitig gealtert – in Mode und Lebensstil, in Ansichten und Wünschen.
»So«, sagte Sonja. »Ich hab die Meute rausgefeuert.«
»Auch die ewigen Nörgler?«
»Alle in die Kälte verscheucht, allesamt.«
Anna streckte ihr den Daumen entgegen.
»Ich soll dir allerdings von Justin ausrichten, dass du gehirnamputiert bist und schwul.«
»Hat er wirklich gehirnamputiert gesagt?«
»Ja, sehr laut und mit sehr viel Spucke.«
»Ziemlich retro«, stellte Anna fest. »Hätte ich ihm gar nicht zugetraut.«
Sonja öffnete das Fenster, setzte sich auf die Heizung und zündete sich eine Marlboro an. Eigentlich war das Rauchen im Klub untersagt, aber das kümmerte Anna nur so weit, dass sie Sonja ermahnte, sich nicht erwischen zu lassen. Sie wickelte sich ein Halstuch um und widmete sich der E-Mail.
»Ach du Scheiße«, fluchte Sonja. »Wer hat das denn verzapft?«
Anna schaute vom Laptop auf und realisierte, dass ihre Kollegin den Brief in den Fingern hielt. »Eigentlich ist das privat.«
»Sorry, ich dachte, das wäre ein peinlicher Liebesbrief.«
»Dann wär’s auch privat.«
»Mann, nicht von dir. Von einem der Kinder.«
»Hab’s kapiert«, entgegnete Anna härter als beabsichtigt.
»Entschuldige, aber das ist krank. Echt krank.«
»Ich weiß.«
»Hat den dein Ex geschrieben?«
»Wie kommst du ausgerechnet auf den?«
»Nach dem, was du von ihm erzählt hast.«
»Nein, das ist nicht Pauls Art.«
Sonja blies den Rauch hinaus in die Nacht und streckte ihr gleichzeitig den Umschlag entgegen. »Haben den etwa unsere Pappenheimer fabriziert?«
»Nein, hundertprozentig nicht.«
»Und warum bist du dir so sicher?«
»Auf dem Poststempel steht ’ne 14.«
»Und das bedeutet?«
»Die Zahl steht fürs Briefzentrum, in diesem Fall für Stahnsdorf.«
»Noch nie gehört.«
»Liegt draußen in Brandenburg.«
»Aha, und kennst du da jemanden?«
Anna stieß sich vom Schreibtisch ab, rollte zum Fenster und gierte nach der frischen Luft, die ihr die Beklemmung in der Brust lösen sollte. »In Stahnsdorf landet auch die Post aus Gollwitz.«
»Gollwitz, dein Heimatdorf?«
»Meine Heimat ist Berlin, okay?«
»Du weißt, was ich meine.«
Anna schwieg.
»An deiner Stelle würde ich die Bullen rufen?« Sonja streifte die Asche am Fenstersims ab und wandte sich ins Büro. »Das ist quasi ’ne Morddrohung.«
»Ich wette, das hat irgend so ’n Dorftrottel geschrieben.«
»Das macht’s nicht besser.«
»Solche Freaks muss man ignorieren, sonst stachelt man sie nur an.«
»Das heißt ja nicht, dass man sich alles bieten lassen muss.«
»Sonja, wenn sich irgendwer darauf einen runterholt, kann ich’s eh nicht verhindern.«
»Und wenn du Anzeige gegen Unbekannt stellst?«
»Ich schmeiß den Brief weg und die Sache ist erledigt.«
Anna rang sich ein Grinsen ab und zupfte gleichzeitig den Umschlag aus Sonjas Hand, dann rollte sie mit dem Bürostuhl zurück an den Schreibtisch, fuhr den Laptop runter und warf sich ihren Mantel und ihren Rucksack über.
Sie begaben sich auf die allabendliche Kontrollrunde: Sonja warf einen Blick in die Toiletten, Anna checkte den Tischtennisraum. Beim Öffnen der Tür schlug ihr die ganze Wucht pubertärer Ausdünstungen entgegen. Wäre es nach ihr gegangen, hätten die Jugendlichen zu jedem Schläger ein Duftbäumchen ausleihen müssen. Fichtenduft versus Schweiß, verursacht von Hormonen und dicken Kapuzenpullis. Sie prüfte die Fenster und fegte die Schalen der Sonnenblumenkerne zusammen, die man neuerdings überall im Haus fand.
Auf dem Weg ins Erdgeschoss fragte Sonja beiläufig, ob sie ihre Familie schon angerufen habe.
»Warum sollte ich?«
»Hallo, der Brief!«
»Ja, und?«
»Würdest du nicht wissen wollen, wenn dich jemand bedroht?«
»Ich will sie nicht in Panik versetzen«, rechtfertigte sich Anna. »Nicht wegen so einem Spinner.«
Sie