Zurück im Zorn. Christoph Heiden
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»Ich würde es machen«, sagte ihre Kollegin.
»Was? Noch mal reingehen?«
»Nein, meine Familie informieren.«
»Wir haben uns das letzte Mal vor Ewigkeiten gesehen.«
»Du hast ja bloß Schiss, Anna.«
»Was soll ich denen denn sagen: Hallo, meine Lieben. Ich hab einen Brief erhalten, in dem jemand ankündigt, euch abzufackeln?«
»Ja, zum Beispiel«, meinte Sonja.
»Das würde sie total verschrecken.«
»Das tut die Wahrheit doch meistens, oder?«
Liebende Walrosse
Willy setzte seinen Astra rückwärts aus der Einfahrt und brachte ihn knapp vor dem Straßengraben zum Stehen. Das Haus, das er länger als sein halbes Leben mit Eva bewohnt hatte, lag außerhalb von Gollwitz. Eingerahmt von verschneiten Feldern war der Ziegelbau erbarmungslos der Witterung ausgeliefert; eine Steintreppe führte zu einer Flügeltür, deren blauer Anstrich sich bestenfalls erahnen ließ; von den Fensterläden hatten Wind und Regen die Farbe gespült. Das Haus schien sich langsam, aber sicher in der havelländischen Ebene aufzulösen. Willy machte das Radio an, drückte aufs Gas, und nach wenigen Sekunden verschwand das Hoflicht aus dem Rückspiegel.
Er nahm den Feldweg, der von seinem Haus zur Gollwitzer Chaussee führte. Das Ende der 20-Uhr-Nachrichten signalisierte ihm, dass der Netto am Rathenower Stadtrand soeben geschlossen hatte. Egal, sagte sich Willy. Zucker gibt’s auch anderswo. Als im Radio »You see the trouble with me« von Barry White angekündigt wurde, drehte er die Lautstärke auf, doch statt den Song einfach abzuspielen, strapazierte der DJ Willys Geduld mit Hörergrüßen.
»Wen interessieren denn Inge und Klaus?«, brüllte er. »Hau rein, die Nummer!«
Eva hatte für das »Walross der Liebe« und seine kosmische Bassstimme zeitlebens geschwärmt: Zum Putzen hatte sie die alte Platte aufgelegt und war zu »Just the way you are« oder »Let the music play« durchs Haus geflattert, hatte zu »Your sweetness is my weekness« den leckersten Kuchen der Welt gebacken.
»Dir ist nie der Zucker ausgegangen«, murmelte Willy und trommelte aufs Lenkrad, während der Astra durch Schnee und Dunkelheit pflügte.
Er wusste um seine Trunkenheit, und er wusste, dass das Fass noch nicht überzulaufen drohte. Er griff aus dem Seitenfach eine Plastikflasche und klemmte sie zwischen seine Beine. Billiges Discounterbier, mit praktischem Schraubverschluss und 25 Cent Pfand pro Flasche. Er pustete den Schaum ab, kippte einen Schluck und leckte sich über die Lippen, dann ein zweiter Schluck und ein dritter, und je leerer die Flasche wurde, desto lauter stellte er das Radio.
Welkes Gestrüpp und kahle Obstbäume schoben sich ins Fernlicht, blitzten auf und verschwanden wieder. Unter der Eisdecke gefror das Fallobst vom letzten Herbst, hier und dort durchsiebten dürre Gräser das Weiß. Willy brauchte das alles nicht zu sehen, denn die Region umschloss sein Herz wie ein Kranz feiner Venen und Arterien. Er konnte sich nicht vorstellen, woanders zu leben, woanders zu sterben; das Doppelgrab auf dem hiesigen Friedhof war längst abbezahlt.
Auf der Gollwitzer Chaussee drosselte er das Tempo und stierte konzentriert dem Fernlicht hinterher. Pass bloß auf, verdammt. Einen Astronisten über den Haufen zu fahren, würde ihm wohl einen Ehrenplatz unter seinen Mitbürgern bescheren; da verstanden die Gollwitzer keinen Spaß.
Vor zwei Jahren hatte man die Region 90 Kilometer westlich von Berlin zum ersten Sternenpark Deutschlands gekürt. Das Kerngebiet reichte vom nördlichen Zipfel Rathenows bis hinauf zur Gemeinde Gülpe. Die dünne Besiedlung und die Lichtarmut sorgten für einen Himmel, wie es ihn in Deutschland kein zweites Mal gab. Dass Menschen die Region wegen der rabenschwarzen Nächte aufsuchten, war bei den Gollwitzern zunächst auf Skepsis gestoßen; heute dagegen stapelten sich in den Pensionen nachtblaue Flyer, Stern- und Postkarten. Man hatte sogar einen Namen für die Besucher kreiert: Astronisten, eine Kombination aus Astronomen und Touristen.
Willy brachte der Sternenhimmel kaum in Verzückung. Sein Gedächtnis war voll von Nächten, in denen Suffköppe im Dorf randalierten oder der alte Siebert seine Frau mal wieder verdrosch; Nächte, in denen Eltern vom Unfalltod ihres Sohnes erfuhren oder er verstörte Kinder einer Notunterkunft übergeben musste. Und es gab die Nacht, als er zum Haus der Familie Majakowski gerufen worden war. Für diese Tragödie hatten die Gollwitzer ebenso einen Namen kreiert: Die Brandnacht, so schlicht wie unzweideutig. Die Nacht, in der Eva ihren Abgang gemacht hatte, setzte jedoch allem die Krone auf.
In Gedanken an seine Frau schwenkte er die Flasche zum Seitenfenster.
»Ich hoffe, bei dir ist es wärmer.«
Unter abgeschirmten Laternen zog sich die Dorfstraße dahin wie durch eine Geisterstadt. Gollwitz, Kreisstadt Rathenow, Landkreis Havelland. Winterzeit war auch hier keine Erntezeit. Die Astronisten wagten sich kaum in diese Hundekälte; vielleicht hockte ein harter Kern im hiesigen Pub zwischen den Einheimischen und trank sich Mumm für die Wanderung an. Willy war das alles einerlei, die Sterngucker, die Winterflaute, der verdammte Himmel. Er wollte ein Päckchen Zucker, mehr nicht.
Er fuhr am Denkmal der »Butterhexe« vorbei und schwenkte die Flasche erneut zum Fenster. Die Frau war 1672 verbrannt worden, weil sie verunreinigte Butter verkauft haben soll. Schon vor 300 Jahren hatten sich die Gollwitzer nicht hinters Licht führen lassen. Er folgte der Dorfstraße und passierte die Fachwerkkirche, wendete und parkte den Wagen in Sichtweite von Friesacks Pub.
Jochen Friesack, ein Mann um die 60, hatte nach der Wende sein Gespartes zusammengeklaubt, um Irland zu besuchen; weshalb sein erstes Ziel in Reisefreiheit ausgerechnet auf die grüne Insel gefallen war, blieb allen ein Rätsel.
»Du hast ihn immer Erdbeermütze genannt«, erinnerte sich Willy in der Dunkelheit des Wagens. Er presste ein bitteres Lachen hervor, aber Eva stimmte nicht mit ein. »Ich glaube, der Idiot hält sich für ’nen verdammten Paddy.«
Er hievte sich aus dem Auto, schob den Schlüssel in die Weste und überquerte mit der Bierflasche die Straße. Friesack hatte vor seinem Pub nicht nur Schnee gefegt, sondern auch Kies gestreut.
»Sehr vorbildlich«, bemerkte Willy und stapfte vor die Ladenfront. Durch das Bleiglasfenster in der Tür drang warmes Licht auf den Gehweg. Sobald ihm das Kneipenschild über der Tür ins Auge sprang, verkrampften sich seine Finger um die Flasche. Auf dem sumpfgrünen Blech stand in verschnörkelten Lettern LEPRECHAUN.
»Wer benennt denn seine Kneipe nach ’nem Kobold?«, fragte sich Willy. »’nem rothaarigen noch dazu.«
Allmählich setzte ihm die Kälte zu; er raffte die Weste um seine Brust, bückte sich und zog unter der Hose seine Wollsocken hoch. Ein Teil von ihm wollte zurück ins Auto steigen und heimfahren; der Pflaumenkuchen wartete im Ofen, der Schnaps neben dem Sofa und »National Geographic« brachte eine Doku über Essigfliegen. Eigentlich ein erstklassiges Programm, auch ohne Zucker auf den Pflaumen.
Er trank den letzten Schluck und holte Schwung, um die Plastikflasche über die Mauer aufs Nachbargrundstück zu feuern. Die Flasche prallte von den Steinen ab und landete