Rurschatten. Olaf Müller
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Fett, der Junggeselle, addierte einen weiteren ungelösten Fall zu seiner Liste. Schmelzer, frisch verheiratet, kämpfte mit der Ratenzahlung für die Darlehen und mit den Handwerkern. Und dazwischen der Alte aus Düren. So ein Mist. Die Lokalmedien hatten zehn Tage wild spekuliert. Das alles war nicht gut: nicht für das Image der Annakirmes. Und nicht für das Image der Polizei.
Fett fährt
Fett fuhr nach Düren. Dort war er aufgewachsen und zur Schule gegangen. Aus seiner Schulzeit kannte er noch einige, die mit ihm dort in den 70er-Jahren Abitur gemacht hatten. Sie gehörten nun zum Dürener Establishment. Vielleicht könnte ihm jemand helfen. Er musste neue Wege gehen. Wo war die Papierfabrik von Rütters? Er parkte am Dürener Bahnhof, lieh dort ein Fahrrad aus und fuhr die Rur entlang. Die Fabrik, die Rur, Schatten – die Begriffe tanzten in seinem Kopf. Die langsame Fahrt durch die Stadt und dann in Richtung Rur verschaffte ihm Luft und ließ ihn die Stadt etwas mehr spüren. Er sammelte die Eindrücke, die er später zu einem Mosaik zusammenfügen wollte. So ging er immer vor. Klar, manche Mosaiksteine musste er wegwerfen, manches Vorurteil beiseiteschieben.
An der Johannisbrücke bog er auf den linksseitigen Rurradweg flussaufwärts, dann ging es in Richtung Lendersdorf. Da standen die Papierfabriken. Direkt hinter dem Annakirmesgelände fing die Industriezone an. Sie erinnerte an bessere Zeiten. Düren war einst reich. Sehr reich. Dank des Papiers. Dank des milden Wassers der Rur. Schließlich erreichte er das Gelände der ehemaligen Fabrik Rütters. Hinter der alten Mauer standen moderne Hallen, kaum Arbeiter, alles automatisiert. Fett wusste nicht genau, warum er hier eigentlich radelte. Er kehrte um und fuhr zurück in Richtung Haltestelle Annakirmesplatz der Rurtalbahn. Er kam an Bauschutt und abgestorbenen Bäumen vorbei, eine Fußgängerbrücke führte auf die andere Rurseite, am Wegesrand stand ein zugewachsenes Metallkreuz. Er bemerkte einen leicht verwelkten Blumenstrauß davor.
Kriegswichtig
Schmelzer recherchierte unterdessen und trug Material über Alexander Rütters zusammen.
Rütters hatte in Düren das Abitur gemacht, war 1938 gemustert worden, hatte dann die Freistellung erhalten, um in der Papierfabrik seines Vaters Oskar mitzuarbeiten. Der war wohl nicht linientreu genug gewesen, war nicht Parteimitglied, wurde irgendwann 1941/42 aus der Leitung der Fabrik entfernt und blieb danach fast nur noch in seinem Wohnhaus in der Goethestraße, wo er 1944 beim Bombenangriff mit seiner Ehefrau starb.
Die Rütters Papier AG lieferte ihr feines Büttenpapier an die Reichskanzlei. Auch Göring und Goebbels bezogen die edle Ware. Sie wurde gebraucht für Urkunden und Auszeichnungen, die man bei den Nazis reichlich verteilte. Seit 1939 wurde vom Eisernen Kreuz II aufwärts jede Urkunde auf Rütterspapier gedruckt: Führerstandard. Selbst nach dem Bombenhagel am 16.11.1944, der Düren ausradierte, konnte Rütters nach 14 Tagen wieder liefern. Die Nachfrage nach Urkunden und Auszeichnungen blieb unersättlich. Orden statt Brot. Dann das Ende. Rütters stellte den Betrieb auf Nachkriegsbedarf um; er produzierte Packpapier, Kartonagen und Klopapier. Die Alliierten kauften bei dem jungen Unternehmer das Toilettenpapier für die Besatzungstruppen. Qualität und Preis stimmten. Geliefert wurde an die Engländer nach Mönchengladbach und an die Belgier vor Ort. Der Betrieb lief wieder. Tochter Anne zeigte kein Interesse an der Fabrik. Sie wurde lieber Lehrerin. Deshalb entschied Rütters sich für den Verkauf. Schluss mit Rütterspapier aus Düren.
Fett kramte unterdessen in den Unterlagen, die Schmelzer zusammengetragen hatte, und fand die Adresse einer Haushälterin, die dem Alten einige Jahre im Haushalt geholfen hatte, bevor er im Jahr 2000 ins Altenheim umsiedelte. Marie Utzerath. Ob sie wohl noch lebt, überlegte er. Eine Haushälterin bekommt viel mit. Vielleicht kann sie weiterhelfen.
Ein feiner Herr
Marie Utzerath lebte tatsächlich noch in Düren, Dr.-Overhues-Allee, direkt an der Rur. Über das Melderegister gelangte Fett an ihre Adresse. Als Fett den Besuch ankündigte, da klang sie so, als ob sie es erwartet hätte. Eine interessante Stimme, dachte Fett. Er fuhr an einem Augustmorgen wieder nach Düren, wieder an die Rur und stand vor einem stattlichen Haus. Marie Utzerath öffnete ihm, bevor er die Eingangstüre erreichte.
»Was für ein Schicksal!«, seufzte sie dem Kommissar entgegen.
Marie Utzerath, 67, hatte Alexander Rütters das Haus von 1985 bis 2000 besorgt. Ihre Schönheit zu dieser Zeit konnte sich Fett lebhaft vorstellen. Sie hatte sprechende Augen, bewegte sich sehr dynamisch und schien bestens in Form zu sein. Jahrgang 1941, sie war 21 Jahre jünger als Rütters und hatte im Alter von 44 die Stellung angenommen. 15 schöne Jahre seien es gewesen. Er habe sie stets sehr gut behandelt. Sie beschrieb ihn als humorvollen Mann:
»Wir haben viel gelacht.«
Rütters habe es ihr ermöglicht, ein Studium aufzunehmen. Sie sei nach Aachen gefahren und habe Geschichte und Politik gehört. Dass er ihr diese Chance gab, werde sie ihm nie vergessen.
»Sehen Sie, Herr Fett, das Leben besteht doch aus mehr als nur Hauswirtschaft, Empfängen, Martinsessen, nicht wahr. Wo kommen wir her, wo gehen wir hin, was für einen Sinn macht das, was wir gerade tun? Das sind ewige Fragestellungen. Mich trieb das immer um, während ich daneben kochte, putzte, Einkäufe besorgte und Kulturveranstaltungen aus dem Tageskalender heraussuchte.«
Manchmal habe Rütters sie eingeladen. Ja, auch zur Annakirmes. Riesenrad seien sie gefahren auf der Annakirmes. Und ein Weinchen bei der »Schwarzwald-Christel«. Feinde? Nein, Herr Rütters doch nicht. Ein sehr feiner Herr. Drohungen? Ach, was. Sie habe ihn oft besucht im Seniorenstift, und dann wurde von früher erzählt. Am letzten Samstag, vor Beginn der Annakirmes, da sei sie noch bei ihm gewesen:
»Da war er sehr aufgekratzt.«
»Hat er nie von Problemen, Drohungen, Konkurrenten oder vom Krieg erzählt?«
»Vom Krieg, nein. Alles sehr dunkel. Und mit Konkurrenten ist Herr Rütters souverän umgegangen. Drohungen hat er meines Wissens nie bekommen. Warum auch. Er war ein angesehenes Mitglied der Dürener Stadtgesellschaft.«
Er sei gerne gewandert. In der Eifel. Mariawald, Rursee, Vossenack. Als Vogelsang 2006 endlich, endlich geöffnet wurde, sei er sofort losgewandert – durch den ganzen Nationalpark. Dort habe er Ruhe gesucht, auch in der Jagdhütte seines Vaters bei Einruhr, am Rand des Sperrgebiets. Die Rur sei unsere Lebensader, das habe er immer wieder gesagt. Ohne die Rur, da wär hier nichts. Nichts. Nichts.
»Noch ein Kaffee, Herr Kommissar?«
»Nein danke und entschuldigen Sie bitte, Frau Utzerath, Sie wohnen hier in einem prachtvollen Haus in bester Lage.«
»Ich weiß schon, was Sie meinen, Herr Kommissar. Das ist das Haus von Alexander Rütters. Die Tochter wollte es nicht übernehmen, und Rütters bat mich, hier wohnen zu bleiben. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass hier fremde Leute einziehen. Das Haus kaufte er wohl in der Kriegszeit oder kurz danach. Seine Eltern lebten ja in der Innenstadt, wo sie später beim Bombenangriff umkamen. So bin ich hier geblieben und hole, also ich holte ihn oft ab, und wir tranken hier zusammen einen Kaffee.«
Nein, sie selbst sei nicht verheiratet gewesen. Ein Drang nach Unabhängigkeit sei ihr eigen. Das sei ihr Problem gewesen, wenn er denn verstehe, der Herr Fett.
»Jaja«, murmelte Fett und verstand doch nicht so ganz. Ob denn Herr Rütters nach dem Tod der Ehefrau nicht noch mal sein Glück versucht habe.
»Wer, Herr Rütters? I wo. Nein.«