Rurschatten. Olaf Müller

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Rurschatten - Olaf Müller

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lieber Herr Schmelzer, was sagen Sie zu Frau Utzerath?«

      »Eine interessante Person. Ich werde nicht richtig schlau aus ihr. Sie haben von ihr berichtet. Eigentlich wirkt sie eher wie die Witwe eines Unternehmers und nicht wie die Hausdame eines Papierfabrikanten. Ob sie uns bei dem Mordfall helfen kann, da hab ich so meine Zweifel. Wer hier lange alleine wohnt, der bastelt sich so seine Geschichte und Geschichten. Vielleicht möchte sie wichtiger oder geheimnisvoller erscheinen, als sie tatsächlich ist. Wir sollten sie mal im Büro durch den Computer laufen lassen. Vielleicht erfahren wir dann mehr als durch die aufwendigen Fahrten nach Düren.«

      »Danke, Schmelzer. Eine gute Idee. Das machen wir gleich.«

      Marie Utzerath

      Er ließ sie durch den Computer laufen und siehe da: Marie Utzerath war 1941 in die Pflegefamilie Utzerath gegeben und von ihr adoptiert worden. Als Mutter war eine belgische Zwangsarbeiterin eingetragen namens Silvie van der Felde, die im Juni 1940 in der Papierfabrik Rütters zum Arbeitseinsatz gezwungen wurde. Vater unbekannt. Warum hatte sie das nicht gesagt? Da gab es mehr Verbindungen als zunächst gedacht. 1941 geboren. Adoptiveltern. Grundschule, Realschule, Berufsschule, Abitur im Abendgymnasium. Hauswirtschafterin in verschiedenen Familien, so auch bei Goldbach von 1966 bis 1976, dann andere Familien, Unternehmer, Anwälte und im Alter von 44 wird sie im Jahre 1985 die Hausdame von Alexander Rütters. Bis der im Jahr 2000 ins Seniorenstift Sankt Irmgardis zieht. 1960 Geburt des Sohnes Robert. Vater unbekannt. Der Junge spielt im Sommer 1965 an der Rur mit Freunden. Da explodiert ein Blindgänger. Alle fünf Kinder sind auf der Stelle tot. Eine englische Fliegerbombe vom Angriff auf Düren, so die Vermutung.

      Ob Rütters Tochter mehr über Marie Utzerath wusste? Fett zog ein paar Linien. Rurschatten. Das Wort stand in der Mitte. Daneben die Namen. Richtig weiter war er immer noch nicht. Schatten. Viele Schatten.

      Johnny

      Schmelzer überprüfte das Alibi von Josef Kaiser und der Freundin, hörte nach bei den Nachbarn, checkte die Handydaten und kam zu dem Ergebnis, das er erwartet hatte. Josef Kaiser war nicht auf der Annakirmes gewesen, Josef Kaiser war ein armer Hund. Pflegefamilie, Schulen abgebrochen, Sankt Irmgardis war eine Chance, und auch hier wurde er ausgebeutet. Ja, er hatte Alexander Rütters immer wieder Mädchen vorbeigebracht, die ihm vorlesen sollten. Er wollte wohl so gerne den Klang einer jungen Stimme hören. Schmelzer suchte mehrere von ihnen auf und alle bestätigten, dass der »Alte«, wie sie ihn nannten, nur zuhören wollte. Dafür zahlte er den Mädchen 100 Euro, und Johnny Kaiser kassierte die Hälfte.

      Ein Hinweis an die Heimaufsicht brachte den lieben Fred ins Schwitzen. Fred Strack-Zimmermann kassierte von den Jugendämtern und den Schutzbefohlenen, stellte den Paten überhöhte Kosten in Rechnung und fuhr nach Mallorca in seine Kleinbürgerfinca. Eine einvernehmliche Trennung war zu erwarten, vielleicht sogar eine Abfindung, und Stellvertreterin Helene Schulz-Weißenbach bekam unvermittelt einen Karriereschub. Sie half übrigens bei der Aufklärung mit großer und schlecht gespielter Naivität, nur, um den Gästen im Domizil Aufregung zu ersparen. Johnny Kaiser wurde also entlastet und entlassen, eine neue Maßnahme, so sein Sozialamtsbetreuer, sei in Sicht. Schmelzer wollte sich gar nicht erst vorstellen, welche. Er schloss den Aktendeckel Johnny Kaiser.

      Schmelzer denkt

      »Es geht sich um …«

      »Nein, Schmelzer, es geht, es geht oder sagen Sie, von mir aus, meiner Meinung nach, nicht sich um, nicht sich um, dieser verdammte rheinische Reflexiv, immer dreht sich jemand um sich, trinkt sich jemand was, isst sich jemand selbst auf. Bitte, nicht es geht sich um. Sonst schalte ich ab.«

      Fett war gereizt. Da liebte er diese Formulierungen, diese Wolkenschiebereien, diese Redewendungen, dieses Dumpfdeutsch besonders; er konnte nicht mehr. Sodbrennen, Kopfschmerzen, keine tröstende Hand. Nur diese lockere Verbindung.

      »Schmelzer, noch mal von vorne.«

      »Also, Rütters hat eine Haushälterin, deren Mutter vermutlich ab Mai 1940 in der Fabrik des Vaters gearbeitet hat. Merkwürdig. Rütters lebt in einem Luxusstift, ist Pate von einem Junkie, wird vom Geschäftsführer ausgenommen und vielleicht von dem Junkie erpresst. Wegen der Girls. Ich finde, der Loser Johnny, den sollten wir noch mal rannehmen. Auch wenn ich ihm den Mord nicht zutraue. Wenn der den Alten erpresst und mit Kumpels gemeinsame Sache gemacht hat, dann …«

      »Warum dann der Zirkus mit der Geisterbahn? Ist doch viel zu kompliziert für den Jungen. Außerdem hat er ein Alibi. Seine Kumpels haben auch nicht genug drauf für so eine Nummer. Nein, irgendwo liegt ein anderer Faden. Den haben wir noch nicht. Ein Faden mit zahlreichen Knoten. Was ist mit dem Rurschatten? Was ist mit dem Vermögen von Rütters, was wurde eigentlich aus seinem Vater? Ich will mehr über die Familie wissen. Die sind doch ziemlich gut durch den Krieg gekommen.«

      Fett dachte an Rührei mit Speck. Irgendwas Herzhaftes musste er essen. Heute war nicht sein Tag. Dazu noch Schießübungen im Schießkino um 14.00 Uhr. Wieder mal auf Filme ballern.

      »Herr Fett, Kimme und Korn, sonst klappt das nicht.«

      Davon bekam er immer Druck im Kopf. Hundestaffel, das wäre es gewesen. Warum ist er nicht zur Hundestaffel gegangen? Immer schön mit Bello durch die Wälder. Schnüffeln, draußen sein.

      »Wo steht die Jagdbude von dem Rütters?«

      »Irgendwo, Moment, hinter Einruhr.«

      »Einruhr. Kenn ich. Ich schau mir das mal an.«

      »Soll ich mitkommen, Chef?«

      »Ach, Schmelzer. Wenn’s der Wahrheitsfindung dient. Aber nicht erschrecken. Die Eifel ist hart, kantig. Und draußen nur Kännchen.«

      Die Fliegerin

      Fett und Schmelzer fuhren an einem heißen Mittwoch Ende August mit dem Opel Vectra raus nach Einruhr. Sie nahmen die Himmelsleiter, bogen hinter Roetgen nach Lammersdorf ab. Dann über Kesternich die Serpentinen hinunter nach Einruhr. Schmelzer lenkt, Fett denkt. Fenster auf.

      »Robert 35 von Zentrale.«

      »Robert 35 hört.«

      »Position?«

      »B 265 vor Einruhr. Mordfall Rütters. Ortsbesichtigung.«

      »Verstanden. Ende.«

      »Ende.«

      »Herr Fett, was machen wir hier eigentlich?«

      Schmelzer ruderte mit dem Lenkrad wie W. C. Fields in seinen besten Filmen.

      »Nachdenken, Schmelzer. Kaffee trinken. Wandern und nachdenken. Das ist kein einfacher Mord, Schmelzer. Hier steckt was dahinter. Etwas Geheimnisvolles.«

      Schmelzer sinnierte und schaltete einen Gang runter, oder umgekehrt. Der Opel sinnierte und Schmelzer schaltete ab. Fett sprach mehr zu sich als zu Schmelzer: »Es könnte ein einfacher Fall sein. Jemand rächt sich an dem Alten. Bestimmt wegen der Fabrik oder irgendeiner Schikane vor 20 Jahren. Der Täter weiß, dass der Alte mit seiner Tochter jedes Jahr zum Feuerwerk geht. Aber was steckt genau dahinter? Warum macht der Alte das alles mit? Dann der Profimord mit Schalldämpfer. Hier stimmt was nicht. Er hätte auch im Seniorenstift erschossen werden können. Warum so spektakulär in der Geisterbahn? Da abbiegen, Hotel ›Seemöwe‹. Auf den Parkplatz.«

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