Die Unwerten. Volker Dützer

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Die Unwerten - Volker Dützer

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Aber stören Sie meine Untersuchung nicht.«

      Malisha schien sein Starren ebenfalls zu bemerken und hielt schützend ihre Tasche vor den Körper gepresst. Lubeck bot ihr keinen Platz an.

      Er stellte die gleichen Fragen, die auch Dr. Blumberg an sie gerichtet hatte, sonst unternahm er nichts. Schweigend füllte er ein Formular aus.

      »Können Sie Hannah helfen?«, fragte Malisha.

      »Wir werden sehen. Sie muss in der Klinik bleiben.«

      »Würden Sie mir bitte Ihre Diagnose mitteilen?«

      Lubecks Mundwinkel zuckte. »Ihre Tochter leidet an einer Form von Epilepsie. Um die Entwicklung der Krankheit vorhersagen zu können, sind weitere Untersuchungen hier im Haus notwendig. Sie müssen sich darauf einstellen, dass dies geraume Zeit in Anspruch nimmt.«

      Hannah sprang auf und flüchtete zu ihrer Mutter. »Ich will nicht hierbleiben.«

      »Außerdem ist ein Eingriff unumgänglich«, fuhr er fort.

      »Eine Operation?«, fragte Malisha.

      »Was bedeutet das?« In Hannahs Kopf kündigte sich das nächste Gewitter an, Lubecks Gesicht verschwamm vor ihren Augen.

      »Nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 müssen Sie sich mit dem Gedanken einer Sterilisation auseinandersetzen«, erklärte Lubeck.

      Malisha legte einen Arm um Hannahs Schulter. »Das werde ich nicht zulassen.«

      Lubeck schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Ich habe das Gesetz nicht gemacht. Aber es besteht und muss befolgt werden. Warten Sie hier.«

      Er öffnete eine Seitentür. Hannah hörte, wie er die Krankenschwester bat, ein freies Bett herzurichten.

      »Komm! Und nimm das verdammte Formular mit!«, flüsterte Malisha.

      Hannah griff nach dem Blatt, das Lubeck ausgefüllt hatte, und steckte es in die Manteltasche.

      »Beeil dich!«

      Hastig verließen sie das Sprechzimmer. Der Platz der Schwester im Vorraum war leer. Joschi stieß gerade die Tür zur Praxis auf; er schien zu ahnen, was passiert war.

      Malisha rannte kopflos den Korridor entlang, ihre Panik übertrug sich auf Hannah.

      »Da war doch eben ein Lift. Wo sind wir?«

      Sie drehte sich suchend im Kreis und wandte sich nach links. Joschi schüttelte den Kopf und schob sie in die entgegengesetzte Richtung, wo sie auf ein Treppenhaus stießen. Als sie in der Eingangshalle im Erdgeschoss angelangten, war Hannah schwindelig vor Anstrengung und Aufregung.

      »He Sie! Bleiben Sie stehen!«

      Ein Pfleger in weißer Arbeitskleidung kam auf sie zu, ein zweiter folgte ihm im Laufschritt. Sie hatten ihre Flucht also schon bemerkt. Joschi trat ihm entgegen. Beim Anblick des vernarbten Riesen blieb der Pfleger stehen und gab sein Vorhaben auf, sie festzuhalten.

      Durch eine Tür gelangten sie in den Park, der sich an das Gelände der Klinik anschloss. Nach dem trockenen Mief des Krankenhauses fühlte sie sich die Luft klar und frisch an. Es roch nach Schnee.

      »Werden sie die Polizei einschalten, weil ich mein Kind nicht von diesem Lubeck behandeln lassen will?« Malisha sah Joschi flehend an. »Das werden sie nicht, oder?«

      Doch, das würden sie tun. Hannah hatte sich nie zuvor so gefürchtet. Sie wusste nicht, warum das alles geschah, aber sie hatte Lubecks Augen gesehen. Die Augen eines schwarzen Mannes, der blond war.

      Wir brauchen einen Wagen, signalisierte Joschi.

      Er wies mit dem Kinn auf den Lieferwagen einer Wäscherei, der vor einem Lieferanteneingang stand. Der Fahrer schlug gerade die Türen zu. Jemand rief ihn in das Gebäude, er lief los und ließ den kleinen Laster unbewacht zurück. Joschi rannte auf das Fahrzeug zu und öffnete die Hecktür. Sie stiegen in den Laderaum, in dem es nach verschwitzten Bettlaken roch. Hannah ließ sich auf einem der Wäschesäcke nieder, während Joschi leise den Zugang zur Ladefläche zuzog. Kurz darauf hörten sie, wie der Fahrer zurückkehrte, einstieg und den Motor startete. Der Lieferwagen verließ das Gelände der Klinik.

      »Was habe ich denn getan?«, fragte Hannah leise.

      Malisha strich ihr über das Haar. »Nichts. Es ist nicht deine Schuld.«

      »Was ist eine Sterilisation?«

      »Eine Operation, die dafür sorgt, dass du keine Kinder mehr bekommen kannst.«

      »Warum will der Doktor nicht, dass ich welche bekomme?«

      »Weil du krank bist und er befürchtet, sie könnten auch krank werden.«

      Hannah schloss die Augen und passte sich dem Schaukeln des Lieferwagens an. Ob sie jemals Kinder haben würde? Sie stellte sich die Söhne und Töchter vor, die sie nicht bekommen durfte. Was sollte sie ihnen sagen? Dass die Nazis keine jüdischen Kinder wollten? Dass sie Jungen wie Koschka wollten, und Mädchen mit blonden Zöpfen, die Steine warfen?

      Hannah tastete in der Manteltasche nach dem Zettel, den sie von Lubecks Schreibtisch gestohlen hatte, und faltete ihn auseinander. Mühsam entzifferte sie die krakelige Schrift.

      Meldebogen 1

      Name der Anstalt: Hadamar

      Vor- und Zuname des Patienten: Hannah Bloch, geb. 07.03.1925, Halbjüdin

      In ein freies Feld neben den Personendaten hatte Lubeck die Adresse der Frankfurter Klinik gestempelt. Es folgten verwirrende medizinische Ausdrücke sowie die Diagnose: Epilepsie. Zwischen die Zeilen hatte er gekritzelt: Zur Anzeige gebracht von Reinhold Pilz, Volksschullehrer, Feldgerichtstrasse 31, Frankfurt am Main. Bemerkung: Das Kind ist nicht abrichtbar. Verdirbt andere Schüler.

      In einen schwarz umrandeten Kasten am Ende des Blattes hatte er mit Rotstift ein Kreuz eingetragen.

      Der Wagen wurde langsamer und hielt schließlich an. Die Fahrertür wurde zugeschlagen. Joschi öffnete leise die Hecktüren, stieg aus dem Laderaum und half ihnen hinaus. Der Fahrer lief auf einen Kiosk zu und kaufte eine Zeitung. Er hatte in der Nähe des Bahnhofs gehalten. Bis zur Pagode war es nicht weit.

      Joschi trieb sie zur Eile an. Malisha zog an ihrer Hand. Sie liefen über die große Kreuzung auf eine Seitenstraße zu. An Häuserwänden und Fahnenmasten flatterten blutrote Hakenkreuzflaggen, deren Farbe Hannah an das Kreuz auf dem Meldezettel erinnerte. Der Schwindel kehrte zurück. Diesmal kam mit der heranrasenden Dunkelheit die unheilvolle Ahnung einer ungewissen Zukunft. Zum ersten Mal begriff sie die Gefahr, in der sie schwebte, in vollem Umfang. Hitler war ein Krake, seine Fangarme waren die großen und kleinen Nazis, die überall herumschnüffelten und sich nahmen, was er haben wollte. Niemand war vor ihm sicher, das hatte Hannah am eigenen Leib gespürt. Vor einem Jahr hatten alle jüdischen Kinder die Schule verlassen müssen. Hannah durfte bleiben, weil sie eine Halbjüdin war, ein Mischling. Warum unterschied sie sich deshalb von anderen Menschen? Wenn sie sich in den Finger schnitt, hatte ihr Blut die gleiche Farbe wie das von Pilz oder Lubeck, und sie empfand die gleichen Schmerzen.

      Unter den Kindern, die nicht mehr zur Schule durften, waren

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