Die Unwerten. Volker Dützer
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»Gehen Sie an Ihre Arbeit«, schrie Brunner. »Wenn ich je wieder von der Angelegenheit höre, lasse ich Ihren UK-Status aufheben und schicke Sie nach Polen zu den Besatzungstruppen. Haben Sie das kapiert?«
Er schwieg betroffen.
»Ob Sie das kapiert haben, Sie Blindgänger?«
»Ja, Obersturmbannführer.«
Es klopfte an der Tür.
»Jetzt nicht!«
Die Krankenschwester trat ein. »Entschuldigen Sie die Störung, Herr Brunner. Draußen wartet ein Herr von der Kriminalpolizei.«
»Ich komme gleich.«
Die Tür wurde geschlossen. Brunner lief dunkelrot an und drehte sich zu Lubeck um. »Gnade Ihnen Gott, wenn Sie mich in die Sache reinziehen!« Leiser fuhr er fort: »Woher wissen die überhaupt so schnell Bescheid?«
»Wahrscheinlich hat der Hausmeister geplappert, der mich gefunden hat.«
»Mmh. Wir überlegen uns etwas … warten Sie … ja, das geht. Sie waren auf der Suche nach dem flüchtigen Mädchen, haben die Situation unterschätzt und das Gör ist auf Sie losgegangen. Kein Wort von der Mutter, ist das klar?«
»Ja.«
Brunner riss die Tür auf und bat den Kriminalbeamten herein. Lubeck hob den Kopf und sah sein Ebenbild im Wandspiegel des Behandlungszimmers. Auf der linken Wange glühte ein hässlicher Schnitt, der von zehn Stichen zusammengehalten wurde. Für den Rest seines Lebens würde er entstellt sein. Dafür würde das Mädchen bezahlen. Sie alle würden dafür bezahlen!
9
Hannah wickelte sich tiefer in die kratzige Wolldecke. Ihr Atem kondensierte in der kalten Luft und bildete kleine Wölkchen. Malisha schlief und atmete ruhig und gleichmäßig. Durch das winzige Fenster sickerte graues Zwielicht und enthüllte nach und nach die Konturen der spartanischen Einrichtungsgegenstände: Zwei schmale Betten, die eher Pritschen ähnelten, ein wuchtiger Kleiderschrank, ein Tisch und zwei Stühle. Oben auf dem Schrank lag der rote Lederkoffer. Die wenigen Dinge, die sie in der Eile hatten mitnehmen können, hatte Hannah in den Schrankfächern verstaut.
In der Ferne krähte ein Hahn, leiser Gesang erhob sich, dem sie eine Weile lauschte. Es war ein Kirchenlied, angestimmt von hellen Frauenstimmen. Hannah kannte die Melodie, wusste aber nicht, wie es hieß. Sie war noch nie in einer Kirche gewesen, selten in der Synagoge. Da Religion jedoch zum Stundenplan gehörte, war ihr nichts anderes übrig geblieben, als sich damit auseinanderzusetzen. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie die entlarvenden Fragen gestellt hatte, die für sie typisch waren. Die Widersprüche in Bibel und Talmud waren so offensichtlich, dass sie nicht begreifen konnte, warum außer ihr niemand darüber stolperte.
Im Religionsunterricht hatte sie ein einziges Mal eine Frage zum Neuen Testament gestellt. Sie hatte wissen wollen, warum Jesus nicht verheiratet gewesen war. Von einem Rabbiner wurde damals wie heute verlangt, dass er eine Familie gründete. Der weißhaarige Pfarrer, der schwer hörte und mit dem Kopf wackelte, war tiefrot angelaufen und hatte sie eine unverschämte Judengöre genannt. Danach hatte sie nie wieder etwas gefragt.
Sich in Schwierigkeiten zu bringen, rang ihr keine Mühe ab. Es geschah von selbst, sie tat nichts, um den Ärger herauszufordern. Malisha behauptete, sie besäße ein rebellisches Wesen. Hannah sah es anders. Ihr Talent bestand darin, auf die leisen Zwischentöne zu hören, auf die Worte zwischen den Zeilen zu achten, die sie geradezu ansprangen. Sie schenkte ihre Aufmerksamkeit den kleinen Dingen, über welche die meisten Menschen hinwegtrampelten. So kam sie auf Gedanken, die in eine ganz neue Welt führten, wenn man sich still verhielt und den flüsternden Stimmen lauschte. Es erforderte die gleiche Geduld, die man brauchte, um ein Eichhörnchen mit einer Nuss anzulocken, aber es lohnte sich.
Hannah dehnte ihre verspannten Muskeln. Die Kopfschmerzen und der Schwindel der vergangenen Nacht waren verschwunden. Die Ruhe und Langsamkeit, die von diesem Ort ausgingen, schienen einen heilenden Einfluss auf ihren kranken Kopf zu nehmen.
Eine Weile genoss sie die Stille, unterbrochen nur vom fernen Gesang der Nonnen. Spät in der Nacht war der kleine Lieferwagen, der zur Pfarrei von Claudius Brendel gehörte, durch ein steinernes Tor gerollt. Joschi hatte sie zur Mutter Oberin gebracht und war zurück nach Frankfurt gefahren. Er war der Einzige aus Malishas Freundeskreis, der noch auf freiem Fuß war. Alle anderen waren nach der Razzia in der Pagode verhaftet worden.
Da war sie also in einem Kloster gelandet. Malisha regte sich unter der Decke, blinzelte und öffnete verschlafen die Augen. Sie lächelte. Alles wird gut.
Sie blieben noch eine kurze Zeit in ihren Betten liegen, ließen die Stille auf sich wirken und begaben sich dann in einen Waschraum am Ende des Gästetraktes. Das Kloster der Schwestern der barmherzigen Maria bestand aus mehreren Gebäuden, die durch Korridore und Treppenhäuser miteinander verbunden waren und sich um einen Kreuzgang gruppierten.
Nach einer flüchtigen Morgentoilette holte sie eine Nonne ab, die vergeblich versuchte, ihre schwarzen Locken unter der strengen Ordenstracht zu verbergen. Hannah schätzte, dass sie etwa fünfundzwanzig Jahre alt war. Auf dem Weg zum Speisesaal plapperte sie lebhaft. Sie hatte den Ordensnamen Katharina angenommen und lebte seit zwei Jahren bei den Schwestern der barmherzigen Maria in der Nähe des kleinen Ortes Seck. Katharina erzählte von Dörfern in der Umgebung, von denen Hannah nie zuvor gehört hatte. Die nächtliche Fahrt hierher hatte sie verschlafen, doch aus den Worten der Nonne hörte sie heraus, dass sie etwa hundert Kilometer nördlich von Frankfurt waren, tief im windigen Westerwald.
Durch die gotischen Bogenfenster fiel helles Morgenlicht in den Speisesaal. Das Frühstück der Nonnen war längst vorüber, für sie beide stand eine einfache Mahlzeit bereit.
»Die Mutter Oberin will euch sprechen«, sagte Schwester Katharina. »Ich hole euch in einer halben Stunde ab.«
Verschwommen erinnerte sich Hannah an die große schlanke Frau mit der strengen Miene, die sie bei ihrer Ankunft begrüßt hatte.
Das Frühstück bestand aus steinhartem Brot, das Hannah in einer Schale mit Milch aufweichte, Butter und hart gekochten Eiern. Dazu gab es schwarzen Kaffee. Kaum hatte sie den letzten Bissen heruntergeschluckt, betrat Katharina wieder das Refektorium und bat sie, sie in das Büro der Oberin zu begleiten.
Das Zimmer war ebenso zweckmäßig und schlicht eingerichtet wie die anderen Räume, die Hannah bisher gesehen hatte. Die Priorin saß hinter einem Schreibtisch, der fast so alt sein musste wie das Kloster selbst, und bedeutete ihnen, Platz zu nehmen. Schüchtern setzte Hannah sich auf einen Stuhl.
»Claudius Brendel hat sich gemeldet«, sagte Schwester Agnes. »Die Polizei sucht Sie überall. Sie dürfen bis auf Weiteres das Kloster nicht verlassen.«
»Er versprach, dass Sie uns zur belgischen Grenze bringen würden«, antwortete Malisha.
»So war es geplant. Claudius schickt uns häufig Verzweifelte, die Deutschland verlassen müssen. Juden, Kommunisten oder einfach nur Andersdenkende, denen Verhaftung, Folter und Schlimmeres droht. Es reicht, ein falsches Wort zur falschen Zeit zu äußern oder auch nur Mitleid mit anderen Opfern zu zeigen, um als Staatsfeind verfolgt zu werden. Wir helfen, wo wir können. Die Menschen, die Joschi uns bringt, bleiben meist nur einige Tage hier im Kloster, bis sich die erste Aufregung gelegt hat und die Fahndung nach ihnen nachlässiger wird. Ihr Fall jedoch ist durch Hannahs Angriff auf Lubeck komplizierter.«
»Dann