Die Unwerten. Volker Dützer
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Читать онлайн книгу Die Unwerten - Volker Dützer страница 16
»Sie lassen mir also keine Wahl«, antwortete sie ebenso leise.
»Nein«, bestätigte Lubeck. »Das ist Ihre einzige Chance. Wie passt es Ihnen übermorgen?«
Malisha deutete ein Nicken an. Es war eine ergebene Geste, die Lubeck bis ins Mark erregte.
7
»Ich will nicht, dass du mit diesem Mann ausgehst.«
Hannah sah zu, wie Malisha mit einem Kajalstift die Konturen ihrer Augenlider nachzog. Insgeheim bewunderte sie die Art, in der ihre Mutter mit wenigen gezielten Strichen eine große Wirkung erzielte. Sie wünschte sich, sie wäre alt genug, um es selbst zu versuchen. Aber Malisha wollte nicht, dass sie sich schminkte.
»Ich habe es dir doch erklärt, Hannah. Wir können im Augenblick das Land nicht verlassen. Sie haben Heinz, Chang und die anderen verhaftet. Ohne ihre Hilfe komme ich nicht einmal aus der Stadt heraus. Bis mir etwas einfällt, bietet uns Dr. Lubeck den besten Schutz, den wir bekommen können.«
»Er hat gedroht, mich zu sterilisieren. Wie kannst du ihm vertrauen?«
Malisha blickte in den Spiegel, ihre Blicke trafen sich. Sie lächelte. »Hältst du mich für so unvorsichtig? Ich kann den eitlen Kerl nicht ausstehen und traue ihm nicht über den Weg. Aber er will etwas von mir, und so lange er glaubt, dass er es bald bekommen wird, sind wir in Sicherheit.« Sie seufzte und überprüfte mit einem kritischen Blick ihr Erscheinungsbild. »Manchmal muss man Dinge tun, die man nicht will, um ein Ziel zu erreichen.«
»Und wenn er sich mit Gewalt nimmt, was er haben will?«
Malisha drehte sich zu ihr um und fasste sie bei den Schultern. Hannah sog den Duft ihres Parfums ein. Ihre Mutter benutzte Csardas, was sie sehr mochte. Ihre Augen wirkten durch die schwarze Umrandung groß und feucht. Das Weiß kontrastierte wunderbar mit den haselnussbraunen Iris.
»Es ist unsere einzige Chance. Die Amerikaner stellen keine Visa mehr aus, und auch die Engländer lassen keine Emigranten mehr ins Land.«
»Warum gehen wir nicht in dein Heimatland? Nach Palästina?«
»Ich bin in Deutschland geboren, Hannah. Ich kenne niemanden dort. Außerdem ist Palästina britisches Mandatsgebiet.«
»Dann gehen wir zu meinem Vater. Er wird uns helfen. Er ist Pilot, er kann uns überall hinbringen.«
»Wenn es nur so einfach wäre.«
Malisha streifte die schwarze Jacke mit dem Zobelkragen über. Hannah hatte nur zweimal erlebt, dass sie das kostbare Kleidungsstück getragen hatte.
Ihre Mutter hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Spätestens gegen Mitternacht bin ich zurück. Öffne niemandem die Tür.«
»Wenn wenigstens Joschi hier wäre.«
Auf Malishas Stirn erschien eine Sorgenfalte. »Ich habe seit zwei Tagen nichts von ihm gehört. Ich hoffe, er konnte sich in Sicherheit bringen.« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Lubeck wird gleich kommen. Ich gehe hinunter.«
»Ich mag ihn nicht, und ich habe Angst um dich«, beharrte Hannah.
»Ich kann auf mich aufpassen. Leg die Kette vor, wenn ich draußen bin.«
»Sag mir wenigstens, wo ihr hingeht.«
»Ich weiß es nicht. Er hat es mir nicht verraten.«
Malisha trat in das Treppenhaus, in dem es nach Kohl und Bohnerwachs roch, und schloss die Wohnungstür hinter sich. Sie lügt, dachte Hannah. Malisha lügt, weil sie mich beschützen will. Aber diesmal bin ich diejenige, die auf sie aufpassen muss.
Sie lief ins Wohnzimmer und spähte durch einen Spalt in der Gardine. Ihre Mutter hatte sie aus einem schweren, steifen Stoff genäht, damit kein Licht nach außen drang. Sie war vorsichtig geworden, misstrauisch gegenüber Fremden und ängstlich in der Dunkelheit. Nicht nur die kalte Januarnacht war mondlos und schwarz, auch die Zeit, in der sie lebten, war finster.
Sorgenvoll beobachtete Hannah die Straße. Eine schwarze Limousine hielt vor dem Haus. Malishas Silhouette erschien im Lichtkegel einer Straßenlaterne. Der Fahrer stieg aus, umrundete den Wagen und öffnete die Beifahrertür. Lubeck hob den Kopf und starrte zum Fenster herauf, als wüsste er genau, dass Hannah hinter dem Vorhang stand und ihn nicht aus den Augen ließ. Im Licht der Laterne schien sein ausdrucksloses Gesicht bleich und wächsern.
Malisha stieg ein, Lubeck schloss die Tür, und der Wagen fuhr los.
Hannah nahm ihren Mantel vom Garderobenhaken und stülpte eine Wollmütze über das Haar. Dann steckte sie den Zweitschlüssel der Haustür ein, eilte die Stufen hinunter und lief auf die Straße. Sie musste Joschi finden. Er würde auf Malisha aufpassen, ihm fiel immer etwas ein, was man tun konnte.
Sie wusste, dass Malishas Freunde nach dem Brand in der Pagode einen neuen Treffpunkt vereinbart hatten, eine unauffällige kleine Kneipe, nicht weit von dem zerstörten Nachtklub entfernt. Wenn sie sich beeilte, könnte sie in einer Viertelstunde dort sein. Die frostige Luft brannte bei jedem Atemzug in ihren Lungen, aus dem Nachthimmel segelten winzige Schneekristalle.
Hannah hielt den Kopf gesenkt, benutzte Nebenstraßen, wenn sie keinen großen Umweg bedeuteten, und näherte sich langsam ihrem Ziel. Ein vierzehnjähriges Mädchen hatte zu dieser Uhrzeit auf den Straßen Frankfurts nichts zu suchen und musste unweigerlich Aufmerksamkeit erregen – was sie unter allen Umständen vermeiden wollte.
Atemlos erreichte sie den Platz, auf dessen Nordseite sich die Pagode befunden hatte. Verkohlte Dachbalken ragten wie faule Zahnstümpfe in den Nachthimmel, leere Fensteröffnungen gähnten in der von Rauch und Feuer geschwärzten Fassade. Die Braunhemden hatten das Haus bis auf die Grundmauern niedergebrannt.
Hannah glaubte, die Hitze des Feuers noch zu spüren. Je näher sie der Ruine kam, desto stärker wurde der Brandgeruch. Sie blickte sich suchend um. Mehrere Gassen zweigten von dem Platz ab, in denen es ein Dutzend Kneipen gab. Ihr überhasteter Plan drohte zu scheitern, weil sie nicht einmal den Namen des Lokals kannte, ihre Beine waren schneller als ihr Kopf gewesen. Wo sollte sie Joschi in diesem Labyrinth finden?
Vorsichtig wagte sie sich in eine der Gassen hinein. Aus einer Gastwirtschaft drangen laute Stimmen und Musik und übertönten die Gefahr, die ihr drohte. Hannah spürte eine schwielige Hand auf ihrem Mund. Jemand zog sie in das Dunkel der Durchfahrt und hielt sie fest. Instinktiv versuchte sie, sich zu befreien, trat um sich und griff nach der Hand, die sie zu ersticken drohte.
»Schsch«, machte eine heisere Stimme.
Die Hand löste sich von ihrem Mund, der Unbekannte drehte sie um und tätschelte ihren Rücken.
»Joschi!«
Sein linkes Auge war blutunterlaufen, ein tiefer Kratzer zog sich von der Braue bis zum Ohr. Im Halbdunkel sah er zum Fürchten aus. Offenbar war es ihm gelungen, der SA um Haaresbreite zu entkommen.
Er legte einen Finger an die Lippen und deutete auf den Platz hinaus. Aus der Kneipe quoll ein Haufen Braunhemden. Sie waren betrunken, grölten und sangen laut und falsch. Joschi musste sie schon vorher gesehen haben. Hätte er nicht so schnell reagiert, wäre die Horde über sie hergefallen.