Die Unwerten. Volker Dützer
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Читать онлайн книгу Die Unwerten - Volker Dützer страница 18
Aus einem verzerrten Winkel nahm sie Joschis vernarbtes Gesicht wahr. Das Schaukeln rührte daher, dass er sie auf seinen starken Armen trug. Sie streckte sich vorsichtig, ihre Muskeln schmerzten und fühlten sich an, als hätte sie bis zur Erschöpfung Säcke mit Briketts für den Ofen in ihre Etagenwohnung geschleppt. Der Anfall musste diesmal sehr schlimm gewesen sein.
»Wo bin ich?«, fragte sie.
Joschi blickte warmherzig auf sie herab und zwinkerte ihr zu. Alles wird gut.
»Tempo, beeil dich«, rief jemand.
Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Malisha den roten Reisekoffer in den Kofferraum eines viertürigen Autos schob. Joschi legte Hannah behutsam auf der Rückbank ab und breitete eine Wolldecke über ihr aus. Er schloss die Tür und nahm hinter dem Steuer Platz, Malisha setzte sich neben ihn.
Ehe Hannah Fragen nach dem Ziel stellen konnte, begann die Fahrt. Das eintönige Brummen des Motors und das sanfte Schaukeln wiegten sie bald in einen traumlosen Schlaf. Als Malishas Stimme sie weckte, schien eine Ewigkeit vergangen zu sein.
»Wach auf, Hannah. Wir sind da.«
Es war dunkel, durch das Seitenfenster fiel gelber Lichtschein ins Wageninnere. Joschi steckte den Kopf durch die offene Tür und zeigte sein schrecklich schönes Zahnlückenlächeln.
»Ich kann selbst laufen.«
Hannah schämte sich für die Mühe, die sie den anderen bereitete, biss die Zähne zusammen und kletterte aus dem Fond.
Malisha brachte sie zum Seiteneingang einer kleinen Kirche aus gelben und roten Backsteinen. Durch die Buntglasfenster fiel farbiges Licht auf das Pflaster und malte schillernde Regenbögen in die Pfützen. Die Nacht war bitterkalt, ein böiger Wind fegte mit Eisnadeln und Schneekristallen gemischten Regen über das nasse Kopfsteinpflaster.
Hannah betrat hinter Malisha die Sakristei. Die Tür zum Altarraum stand offen, im Halbdunkel dahinter sprachen zwei Männer erregt miteinander. Der kleinere der beiden gestikulierte eindringlich, während der größere Mann energisch den Kopf schüttelte. Er wandte sich ab und humpelte auf die Sakristei zu, bis seine Silhouette den Türrahmen ausfüllte. Als er ins Licht trat, erschrak Hannah. Sein rechtes Auge war blutunterlaufen, die Unterlippe geschwollen, Kinn und Wangen mit Schürfwunden übersät. Aus einer Platzwunde über der Augenbraue sickerte Blut. Sie hatte genug Opfer der Braunhemden gesehen, um zu erkennen, dass der Mann zusammengeschlagen worden war. Obwohl er hinkte und offensichtlich Schmerzen litt, schien er eine innere Kraft zu besitzen, der die brutalen Schläger nichts hatten anhaben können. Seine aufrechte Haltung strahlte Ruhe und unerschütterliche Zuversicht aus. Er trug eine schwarze Soutane, an der mehrere Knöpfe fehlten, der linke Ärmel war eingerissen.
Joschi umarmte ihn wie einen alten Freund. Neugierig betrachtete Hannah den Priester, der etwa Ende zwanzig war, und vergaß eine Zeit lang ihre eigenen Sorgen. Einem Mann wie ihm war sie nie zuvor begegnet. Er war fast so groß wie Joschi, aber im Gegensatz zu ihm schlank und feingliedrig. Eine Strähne seines dunkelbraunen Haars hatte sich gelöst und hing ihm rebellisch in die Stirn. Vom ersten Augenblick an war Hannah von ihm fasziniert. Sie stellte ihn sich als Prediger auf der Kanzel vor. Es musste jedermann schwerfallen, sich seinem Charisma zu entziehen.
Nachdem er Joschis stürmische Umarmung erwidert hatte, richtete er seine Aufmerksamkeit auf Hannah. Sie blickte verlegen zu Boden.
Malisha drängte sich an ihr vorbei. »Um Himmels Willen, Claudius, was ist passiert?«
Joschi deutete einen Faustschlag an und zupfte an seiner braunen Jacke. Waren das die Schläger der SA?
Der Pfarrer begrüßte Malisha mit einer kurzen Umarmung.
»Es freut mich, Sie wiederzusehen, Malisha. Wenn ich mir auch gewünscht hätte, die Umstände wären erfreulicher. Und was die Braunhemden angeht – diesmal brauchten sie sich die Hände nicht selbst schmutzig zu machen«, sagte er. »Sie haben die Menschen in meiner Gemeinde aufgehetzt, bis sie die Kirche verwüstet haben.«
»Aber warum?«, fragte Malisha.
Er lächelte und zuckte zusammen, als seine verletzte Lippe aufsprang und erneut zu bluten begann. »Ich habe mich geweigert, auf meinem Kirchturm die Hakenkreuzflagge zu hissen.«
Joschi verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Das kann böse enden.
»Was hat die Polizei unternommen?«, wollte Malisha wissen.
»Nichts. Sie haben die Leute gewähren lassen.«
»Eine Fahne ist nur ein Stofffetzen. Es lohnt sich nicht, für sie zu sterben. Ihr Widerstand war mutig, aber auch leichtsinnig. Wir müssen vorsichtig sein. Die Zeiten, in denen Sie deren antisemitisches Gedankengut offen im Kirchenblatt kritisieren konnten, sind längst vorbei.«
Brendel lächelte. »Ich denke wehmütig an unsere gemeinsame Zeit zurück, Malisha. Ohne Ihre Hilfe wären die Artikel nie erschienen. Ich gestehe ehrlich, ich vermisse unsere Zusammenarbeit. Aber es geht hier nicht um mich. Diese Kirche gehört nicht Hitler, sie ist Gottes Haus.«
Hannah bewunderte ihn für seine Standhaftigkeit. Kaum jemand wagte es, sich öffentlich gegen die Nazis zu stellen. Wenn es doch mehr Menschen wie ihn gäbe, wenn doch nur genug Leute aufstehen würden, dann könnten sie etwas bewirken.
Malisha stellte sich hinter Hannah und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Das ist meine Tochter. Hannah, ich darf dir Claudius Brendel vorstellen, einen sehr mutigen und aufrechten Menschen. Wir kennen uns schon lange, leider haben wir uns in den letzten Jahren aus den Augen verloren.«
Brendel reichte ihr die Hand zur Begrüßung. Sein Händedruck war warm und fest. »Endlich lerne ich dich kennen. Deine Mutter behütet dich wie ein Schatz vor den Gefahren dieser Zeit. Willkommen in meiner bescheidenen Kirche.« Er schaute sich missbilligend um. »Entschuldige die Unordnung. Wenn ich geahnt hätte, dass mich heute Nacht zwei so reizende Damen besuchen, hätte ich vorher aufgeräumt.«
Hannah spürte, dass sie bis in die Haarspitzen errötete. Sie strich sich unsicher eine Strähne aus dem Gesicht und war plötzlich furchtbar nervös.
»Das … das war se… sehr mutig von Ihnen«, stotterte sie.
»Ach was. Die Braunhemden sind allesamt Feiglinge.« Er runzelte die Stirn. »Aber dass sie es schaffen, friedliebende, gläubige Menschen derart aufzuhetzen, bereitet mir Sorge. Ihre Hetze vergiftet selbst Gemeindemitglieder, die ich für standhaft gehalten habe.«
»Was geschieht jetzt mit uns?«, fragte Hannah.
»Wir werden euch an einen sicheren Ort bringen«, antwortete Brendel.
»Zum Glück gibt es noch Geistliche, die nicht gewillt sind, mit den Nazis zu kollaborieren«, sagte Malisha.
Der Spott in ihrer Stimme war nicht zu überhören, sie hielt wenig von Rabbinern oder Priestern.
»Ich weiß, Sie haben nicht nur mit den Nazis schlechte Erfahrungen gemacht, sondern auch