Tochter der Inquisition. Peter Orontes
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Auch heute war Marthe wieder unterwegs, um jene stillen Orte aufzusuchen, und auch heute fühlte sie sich rundum wohl in ihrem Wald. Es war ein Tag ganz nach ihrem Herzen. Die vom Gezwitscher der Vögel erfüllte Heiterkeit des frühen Morgens, das silberne Glitzern der Tautropfen auf den Grasteppichen, welche die Lichtungen bedeckten, die ungestümen Sonnenstrahlen, die auf den grünen Wogen des mächtigen Blättermeeres tanzten, in sie eintauchten, sie durchdrangen, um schließlich auf dem Waldboden ein flirrendes goldfarbenes Geflecht zu zeichnen – all das erfüllte Marthe mit einer Art von innerem Glück, das nichts anderes auf der Welt ihr geben konnte.
Plötzlich aber hörte Marthe ein Geräusch in ihrem Rücken, das so ganz anders war als die vielfältigen Geräusche des Waldes, die sie kannte. Ein Laut, der schlagartig Furcht in ihr Herz jagte und sie erschauern ließ. Kaum dass sie sich dessen bewusst geworden war, stürzte sich auch schon ein dunkel gewandeter Schatten auf sie. Marthe fiel zu Boden, der Korb entglitt ihren Händen, die gesammelten Kräuter wurden in alle Richtungen zerstreut. Marthe war zu sehr erschrocken, als dass sie einen Schrei hätte von sich geben können. Es hätte auch nichts genutzt, niemand war da, der das, was nun geschah, hätte verhindern können.
»Komm her, mein Täubchen!«, keuchte der Schatten. Indem er seine Linke grob auf Marthes Mund presste und ihren Kopf auf den Moosboden drückte, fetzte er ihr mit der Rechten die Kleider vom Leib und warf sich gierig auf sie. Sie versuchte sich aufzubäumen – vergebens! Glühend heiß und stechend war der entsetzliche Schmerz, der sie gleich darauf durchfuhr, doch entsetzlicher noch empfand Marthe das Bewusstsein, dass in diesen Augenblicken ihre Seele in Stücke gehauen wurde, während sich der Anblick dessen, der ihr das Furchtbare antat, gleich einer Brandspur in ihr Gedächtnis fraß: das verzerrte, mit Kohle geschwärzte Gesicht, aus dem das Weiß der Augäpfel hervortrat, die schwarzen, vor Gier geweiteten Pupillen, die triumphierend auf sie herabblickten, und die dunkle Höhle eines weit aufgerissenen Mundes, aus dem in rhythmischen Abständen die Laute eines Wesens drangen, das zu gleichen Teilen Tier, Mensch und Dämon zu sein schien – immer und immer und immer wieder …
Längst war das schwarze Ungeheuer, das sich an Marthes Leib gesättigt hatte, wieder im Dunkel des Forsts verschwunden, und noch immer lag Marthe regungslos am Boden. Mit leerem Blick sah sie zu der grünen Kuppel aus Laub empor, die sich über ihr wölbte, sah die blauen Flecken dazwischen, die von einem sommerlich strahlenden Himmel kündeten, ein Anblick, der so gar nicht passen wollte zu der Kälte und dem Dunkel, die sich in ihrem Inneren ausgebreitet hatten. Als es Marthe endlich gelang sich aufzurichten, mochte die Sonne die vierte Stunde des Tages anzeigen. Marthe sah an sich hinunter und stellte mit einem Mal fest, dass sie die ganze Zeit über ihre Faust krampfhaft geschlossen gehalten hatte. Als sie sie öffnete, glänzte ein rundes, filigran durchbrochenes Metallplättchen auf ihrer Handfläche. Marthe schloss die Hand wieder zur Faust und erhob sich mühsam. Sie schlang die zerfetzte Kleidung um ihren Leib und torkelte den Weg zurück zu ihrer Hütte. Dort angekommen, stieß sie die Tür auf, ließ das Metallplättchen zu Boden fallen und warf sich aufs Lager. Dann brach es aus ihr heraus. In einem Anfall verzweifelter Wut drosch sie wie wild auf den unter ihr befindlichen Strohsack ein, während ein hartes Schluchzen ihre Brust schüttelte. Doch erst als die Schläge sie ihrer Kraft völlig beraubt hatten und sie erschöpft innehielt, kamen die Tränen, und sie begann hemmungslos zu weinen.
Wind kam auf und kündete den lang ersehnten Regen an. Seit mehr als zwei Wochen war er ausgeblieben, die ganze Zeit über war es heiß gewesen, und so waren die Straßen und Wege knochentrocken. Auch der Weg nach Wolfern.
Eine Bö fuhr heran und wirbelte Staub empor.
Christine von Falkenstein zügelte abrupt ihren Rappen und hob unwillkürlich den Arm vors Gesicht.
»Das Gewitter wird nicht mehr lange auf sich warten lassen«, sagte sie und rieb sich die brennenden Augen, in die eine gehörige Prise Sand geraten war.
»Ja, wir sollten uns beeilen«, bestätigte Falk und sandte einen besorgten Blick zum Himmel. In der Richtung, in die sie ritten, türmten sich schwefelgelbe und schwarze Wolken. Sie gaben den Pferden die Hacken und fielen in einen mäßigen Galopp.
Nach etwa einer halben Stunde sahen sie rechts des Weges in einiger Entfernung ein einsames Gehöft liegen: den Seimerhof. Er bestand aus mehreren Gebäuden und krönte die flache Kuppe eines Hügels. Sie ritten ein Stück weiter und kamen zu einer Stelle, wo sich der Weg gabelte.
»Ich denke, hier geht’s lang«, sagte Falk und bog auf die Abzweigung ein. Der Weg schlängelte sich in vielen Windungen zwischen Wiesen und Feldern hindurch, bevor er zu der sanften Erhebung hinaufführte, auf dem das Anwesen lag. Inzwischen hatten die Böen weiter zugenommen und der Himmel sich zur Gänze zugezogen; erste schwere Tropfen fielen, am Horizont zuckten Blitze, Donner grollte in der Ferne.
»Eigenartig, kein Mensch zu sehen«, sagte Falk und sprang aus dem Sattel. Mit vier Gebäudeeinheiten, die, breit verteilt, den Hügel beherrschten, war der Seimerhof größer als vergleichbare Anwesen und offensichtlich gut in Schuss.
Auch Christine saß ab. »Ja, irgendwie seltsam. Anscheinend sind alle ausgeflogen, bis auf die da«, stimmte sie mit Blick auf die Hühner und Enten zu, die gackernd und schnatternd durcheinanderliefen, während ein in die Jahre gekommener Hund stumm und schwanzwedelnd herbeitrottete.
Plötzlich zuckte es weißglühend vom Himmel, unmittelbar darauf erfolgte ein infernalisches Krachen, die Gewitterfront hatte endgültig die Gegend um Wolfern erreicht. Als hätte der Blitz eine Schneise in das Gewölk gerissen, begannen plötzlich wahre Fluten vom Himmel zu stürzen.
»Ist wer da?«, rief Falk und zog die Gugel in die Stirn, um sein Gesicht vor der Nässe zu schützen.
Nichts rührte sich.
»Heda, ist jemand zu Hause?«, rief Falk ein zweites Mal.
Ein Windstoß fegte über den Hof, gleich darauf ertönte das Geräusch einer zuschlagenden Tür.
»Was wollt Ihr? Es is’ niemand da, alle sind weg!«, versuchte eine dünne Stimme plötzlich, das Prasseln des Regens zu übertönen.
Falk und Christine fuhren herum. Aus einem der Gebäude – es stieß zur Rechten im schiefen Winkel auf den Wohntrakt – war ein alter Mann getreten. Ungeachtet des flutenden Regens schlurfte er langsam auf die beiden zu.
»Gott zum Gruß, Gevatter!«, rief Falk und ging ihm entgegen. »Ihr sagt, es sei niemand da? Ihr seid doch da.«
»Ich zähle nicht. Ich bin nur Jos, der Knecht. Ich muss hier auf alles acht geben, bis die anderen wieder zurück sind«, erklärte Jos mürrisch.
»Peter Seimer, der Bauer, – ist er auch nicht da?«
»Nein, wie ich schon sagte. Er und die anderen sind in Ternberg, sie kommen erst morgen Nachmittag zurück.«
»Sag, Jos, könntest du mir und meiner Gemahlin Obdach gewähren, bis sich dieses Sauwetter wieder verzogen hat?« Als ob Falks Bitte Nachdruck verliehen werden sollte, zuckte erneut ein Blitz vom Himmel, dem ein ohrenbetäubender