Wiener Bagage. Andreas Pittler

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Wiener Bagage - Andreas Pittler

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»Ein Autogramm, wenn ich bitten dürfte.«

      Kiepura nahm den letzten Satz mit spürbarer Erleichterung zur Kenntnis. »Wenn’s weiter nichts ist …«

      »Es ist weiter nichts. Und können S’ bitte schreiben: Für Anna Doleschal mit besten Grüßen oder so …«

      Letztes Mittagmahl

      Dieses Zittern! Diese Nervosität! Diese unerträgliche Angst! Wann hörte das alles endlich auf? Konnte er dem allen nicht Herr werden? War er denn kein Mann? Hunderttausenden war es wie ihm ergangen, und die suhlten sich auch nicht tagein tagaus in ihren vermeintlichen Wehwehchen! Vor allem: Er saß hier, er war gesund, hatte keine Gliedmaßen verloren und war, zumindest theoretisch, voll einsatzfähig.

      Weshalb wachte er dann Nacht für Nacht von Albträumen geplagt auf? Er war 33 Jahre alt, da durfte man doch erwarten, dass er sich nicht mehr fürchtete wie ein kleines Kind. Schon gar nicht, wenn die Gefahr längst vorbei war!

      Bronstein zündete sich eine Zigarette an und trank den trüben Eichelkaffee ohne jeden Zusatz. Zucker gab es schon lange keinen mehr, und die Milchfrau war am Vortag nicht mehr in ihrem Geschäft gewesen. Warum, so fragte sich Bronstein, während er den Rauch ausblies, musste er immer wieder an Tarnow-Gorlice denken? Eine Woche hatte dieses grauenvolle Schlachten gedauert, und am Ende waren fast 100.000 Soldaten der eigenen Seite und ebenso viele Feinde tot oder verwundet am Schlachtfeld geblieben. Und er, Bronstein, musste sich eingestehen, niemals in seinem Leben hätte er sich so etwas Schreckliches auch nur vorzustellen vermocht.

      Mit einer Infanteriedivision der 4. Armee war er als Oberleutnant nach Kleinpolen beordert worden. Dort hatten sie als Erstes erfahren, dass die deutschen Waffenbrüder, namentlich die Generale Mackensen und von Seeckt, den Oberbefehl hatten, was in der Mannschaft sofort für Unruhe sorgte. Bronstein war am ersten Tag mehr damit beschäftigt gewesen, den Leuten zu erklären, dass es egal sei, wer das Oberkommando innehabe, als dass er Zeit für eine Überprüfung der Ausrüstung gefunden hätte. Die einfachen Soldaten hatten es damals schon besser gewusst. Er erinnerte sich an einen böhmischen Lackl, der ihm unverfroren gesagt hatte: »Nichts für ungut, Herr Oberleutnant, aber die Piefke haben da das Kommando, weil sie euch Österreichern nichts mehr zutrauen.« Damals hatte Bronstein den Mann angebrüllt, er solle gefälligst die Disziplin wahren, doch heute blieb ihm nichts anderes übrig, als dem Tschechen beizupflichten. Die Deutschen trauten den Österreichern tatsächlich nichts zu, und das wurde mit jedem neuen Tag nur offenkundiger.

      Damals aber, an jenem 2. Mai 1915, hatten sie die deutschen Offiziere kurz nach sechs Uhr morgens aus den Schützengräben gejagt. Er hatte sich dabei ertappt, wie er an jenen dummen Witz des Schriftstellers Roda Roda denken musste, worin denn der Unterschied zwischen einem ungarischen und einem österreichischen Frontoffizier bestehe. Ersterer rufe »mir nach«, Letzterer »vorwärts«. An diesem Tag wollte Bronstein ein Ungar sein. Er rief lautstark »mir nach« und sprang nach dem Pfeifton aus dem Graben. Geduckt lief er durch das völlig zerfurchte Terrain, das von Geschützfeuer, Maschinengewehrgarben und Minenwerfern bis zur Unkenntlichkeit umgepflügt worden war. Seine 60 Mann folgten ihm in kurzem Abstand. Er hätte es nicht für möglich gehalten, eine Distanz von drei Kilometern im Sprint zurückzulegen, doch nackte Todesangst spornte einen anscheinend zu ungeahnten Höchstleistungen an. Links und rechts pfiffen Kugeln an seinem Helm vorbei, und er war so außer sich, dass er nicht einmal mehr daran zu denken vermochte, eine der Kugeln könnte ihn treffen.

      Als sie den Stacheldrahtverhau des gegnerischen Schützengrabens erreicht hatten, bot sich ihm ein Bild der Apokalypse. Leichen über Leichen türmten sich da, in der schwarzen Erde versickerten Ströme von Blut. Hier lagen Gedärme, dort Augäpfel, wiederum dort ein abgetrennter Arm oder ein abgerissenes Bein. Dazu ein pestilenzartiger Gestank, der die ohnehin schon vorhandene Übelkeit nur noch verstärkte. Sein Gehirn gebot ihm, den Draht zu überwinden und in den Schützengraben zu springen. Doch er sah nur diese unbeschreibliche Verwüstung und sich selbst vollkommen bewegungsunfähig.

      Erst Wochen später, als er halbwegs wieder auf dem Damm war, erfuhr er im Lazarett vom Ausgang der Schlacht. Lemberg war durch den grandiosen Sieg zurückerobert worden, hieß es, und er, so beschied man ihm, habe unendliches Glück gehabt, dass die Kugel, die ihn am Kamm getroffen hatte, die Schlagader um einen Zentimeter verfehlte. Denn sonst, so lautete das ärztliche Urteil, wäre er dort binnen weniger Augenblicke verblutet. So aber sei er spätestens im Juli wieder voll einsatzfähig. Welch ein Trost!

      Und dabei war Tarnow-Gorlice noch gar nicht das Schlimmste gewesen! Der Gasangriff vor einem halben Jahr war es, der für seine Albträume verantwortlich war. Denn immer noch wachte er schweißgebadet mit der fixen Vorstellung auf, er sei gerade im Giftgas erstickt. Er zündete sich eine neue Zigarette an, die er mit fahrigen Bewegungen zum Mund führte. Wie lange, so fragte er sich, konnte man mit dieser beständigen Angst leben? Würde er ihr irgendwann einmal nachgeben? Nach außen hin war es ihm bisher gelungen, die Fassade aufrechtzuerhalten, doch tief in ihm nagte die fortwährende Furcht, die ihn bei der kleinsten unvorhergesehenen Entwicklung schier in Panik ausbrechen ließ.

      Mit nicht geringer Erleichterung stellte er fest, dass Samstag war. Wenigstens musste er an diesem Tag nur bis zur Mittagsstunde im Amt ausharren. Danach freilich war ein Lunch mit dem Herrn Papa angesetzt, der sich, wie Bronstein nur zu gut wusste, um den Sprössling ernstlich sorgte. Ihm gegenüber konnte er sich also schwerlich offenbaren, und dies umso weniger, als der Vater sich redlich Mühe gab, dem Sohn wieder in ruhigere Fahrwasser zu verhelfen. So hatte Bronstein senior extra einen Tisch im Hotel ›Meissl & Schadn‹ reserviert, wo es, zumindest nach der Meinung von Karl Kraus, dem Herausgeber der ›Fackel‹, das beste Ochsenbeinfleisch des gesamten Planeten gab. Ein solch lukullisches Mahl durfte man also kaum durch banales Wehklagen über die eigene Befindlichkeit entweihen. Es galt vielmehr, die Zähne zusammenzubeißen und ein ›keine besonderen Vorkommnisse‹ zu rapportieren.

      Erfreut stellte er wenig später fest, dass die Straßenbahn klaglos funktionierte und ihn direkt zur Universität fuhr. Der Oktoberwind blies ihm scharf ins Gesicht, als er den Ring abwärts marschierte, sodass ihn fröstelte, als er seine Amtsstube betrat. Er befeuerte den Kanonenofen, rieb sich die Hände und setzte sich dann endlich an seinen Schreibtisch. Stumm blickte er das Porträt Kaiser Franz Josephs an, wie um damit zu signalisieren, dass er nun mit seiner Arbeit beginne.

      Im Nachhinein hätte er selbst nicht mehr zu sagen vermocht, wie es ihm gelungen war, die vier Stunden zu überstehen, doch diese Frage zählte nicht angesichts des kleinen Erfolgs, den er über sich selbst und seine Angst errungen hatte. Er durchquerte flotten Schrittes die Schottengasse, hielt dann auf den Graben zu und erreichte so, um einiges zu früh, wie er feststellte, den Neuen Markt. Da er nicht im Freien auf den Vater warten wollte, zog er sich in das Café des Hotels zurück, wo er einen kleinen Braunen und einen Trebernen orderte, sich von Letzterem ein wenig mehr Ruhe und Sicherheit erhoffend.

      Er stellte fest, dass er schon zu viele Zigaretten für diese Zeit des Tages geraucht hatte, und so erwarb er beim Kellner eine weitere Packung, dabei inständig hoffend, der Herr Papa würde für das Mittagmahl aufkommen, da seine pekuniäre Lage sonst allzu prekär geworden wäre.

      Wie aufs Stichwort erschien die gebeugte Gestalt des alten Bronstein in der Lobby und sah sich mit wachen Augen um. Nahezu im selben Augenblick erspähte er den Sohn, und ein schmales Lächeln zeigte sich auf dem zerfurchten Antlitz. Jener aber überwand behände die Entfernung zwischen ihnen und schüttelte dem Vater freudig die Hand. »Ich freu mich, Papa, dass wir uns endlich wieder einmal sehen.«

      »Und ich erst, mein Junge. Du glaubst ja gar nicht, wie fad es ist, wenn man immer nur Zeitung liest und Briefmarkenalben abstaubt. Da tut es gut, wenn man einmal aus der Wieden herauskommt.«

      Die beiden wandten sich an einen Pikkolo, und Bron­stein senior verwies auf die von ihm vorgenommene Reservierung.

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