Der Sommer mit Josie. Sandy Lee
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Er nahm die Pausenbrote, gab seiner Mutter schnell noch einen Kuss und war schon an der Tür.
»Und du machst dich jetzt auch auf den Weg! Die Schule wartet nicht!«
Barbara hielt ihrer Tochter das Brotpäckchen entgegen. Ilsa trank schnell ihren Kakao aus, dann ging sie in den Flur.
»Mama, findest du Daniels Pferdeschwanz eigentlich schön?«, fragte sie, während sie sich ihre Sandalen anzog.
»Weiß nicht. Jungs in dem Alter probieren halt alles Mögliche aus. Und der kleine Zopf ist ja wirklich nur eine harmlose Spielerei.«
Ilsa lachte über diese Bemerkung, drückte ihre Mutter an sich und schlüpfte durch die Tür.
Hendrik Wegener verließ die Universität. Es war wieder ein arbeitsreicher Tag gewesen. Drei Vorlesungen, da wird die Stimme schon stark strapaziert.
Wie lange machte er das eigentlich schon? Mein Gott, nächstes Jahr würden es zehn Jahre sein. Da hatte man eine Menge Studenten vor sich sitzen gehabt. Die einen lauschten aufmerksam und machten sich fleißig Notizen, den anderen sah man die Fete vom Vorabend noch an. Sie hatten Mühe, die Augen offenzuhalten. Aber wenn er an seine Studienzeit zurückdachte … War er anders? Er kannte auch beide Seiten des Studentenlebens. Das musste wohl so sein.
Jemand holte ihn von hinten ein, verhielt im Schritt und pustete.
»Na, Hendrik, Schluss für heute?«
»Ach du, Hans. Ja, mir reichts. Weißt du, so schön, wie unser Beruf sein kann, manchmal wünsche ich ihn zum Teufel.«
Der neben ihn Gehende war in Hendriks Alter, Anfang vierzig. Er hatte Jeans an und trug ein gestreiftes Hemd – offen, ohne Krawatte. Das machte den Unterschied zu Daniels Vater, der bei der Hitze im beigefarbenen Anzug mit Schlips und Kragen stöhnte. Hendrik war Physik-Dozent, das zählte als ›ehrliche‹ Wissenschaft mit würdevollen Lehrern.
Hans Körner war auch Dozent, allerdings für Informatik. Und diese Leute, die die Hälfte ihres Lebens vor Monitoren zubringen, galten an der Uni als loses Völkchen, die hemdsärmlig ihre Probleme lösten. ›So ist das eben‹, dachte Hans. ›Die haben ihren Archimedes, wir kommen kaum über Konrad Zuse zurück.‹
Aber abgesehen davon waren die zwei sehr gute Freunde. Sie gehörten tatsächlich zum gleichen Matrikel, hatten nur unterschiedliche Fachrichtungen belegt. Und noch eines verband sie. Sie fröhnten der gleichen Leidenschaft, dem Motorsport. Nicht, dass sie selbst in so einen Boliden stiegen, um über Pisten zu brettern. Das lag jenseits ihres Horizonts. Für sie war die Autowelt eine Idee kleiner. Beide waren Mitglied in einem Modellsportverein. Dort wurden Rennwagen gebaut, sogenannte RC-Modelle, die dann knatternd per Fernsteuerung über die Rennstrecke gejagt wurden. Da war man Automechaniker, Boxencrew und Fahrer in einem.
Das Vereinsleben hatte jedoch auch seine Eigenheiten. In Abständen fanden auf verschiedenen Ebenen Meisterschaften statt. Und das bedeutete Reisen. Oft war Hendrik an Wochenenden unterwegs gewesen, während Barbara sich um die Kinder kümmerte. Und wenn er nicht unterwegs war, dann fand man ihn meist in seiner Werkstatt beim Basteln. Darunter litt die Ehe der Wegeners im Laufe der Jahre. Seine Frau hatte ihn manchmal zur Seite genommen und gefragt, ob sie denn auch einmal etwas gemeinsam unternehmen mochten. Und da er auf diese Frage wohl zu wenig eine befriedigende Antwort geben konnte, schlug sie die zeitweilige Trennung vor.
Nein, Barbara hatte niemals das Wort Seitensprung, Affäre oder Verhältnis in den Mund genommen. Sie glaubte, Hendrik gut genug zu kennen, dass er sie nie für eine andere Frau aufgeben würde. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte sie wohl für Scheidung plädiert. Aber dieses lustlose Einerlei, die Frage, wie weit die Liebe noch reichte, veranlasste sie nach langem Abwägen zum Vorschlag eines ›Ehe-Urlaubs‹. Das war letztes Jahr im Oktober.
»Kommst du heute Abend in den Verein?«
Die Frage hatte Hans an Hendrik gerichtet. Doch der war in Gedanken versunken.
»Wie bitte?«
»Ob du heute Abend kommst?«
Hendrik hatte in die Realität zurückgefunden.
»Heute Abend … Natürlich!«
Hans schüttelte seinen schwarzen Lockenkopf.
»Also, du brauchst wirklich jemanden, der auf dich aufpasst. Du rennst doch glatt vor ein Auto, wenn du über die Straße gehst.«
Hendrik sagte nichts, aber innerlich gab er seinem Kollegen recht.
Die kleine Boutique ›Feminin‹ lag nur zwei Straßenecken von Barbaras Wohnung entfernt. Sie hatte zwar keine Riesen-Auswahl, aber die Artikel waren passend zur ansässigen Damenkundschaft ausgesucht. Aufgedonnerte Fummel, mit denen junge und nicht mehr so junge Stars und Sternchen über den Roten Teppich flanierten, suchte man in ihr vergebens. Doch für einen aufreizenden Theater- oder Konzertbesuch fand sich schon das eine oder andere Schmuckstück. Und das zu bezahlbaren Preisen.
Barbara war für das Sortiment verantwortlich. Früher war es ihr Traum gewesen, selbst Modelle zu entwerfen. Sie sah sich einmal als kreative Jung-Designerin. Doch wie das so mit Traum und Realität ist: Irgendwann fand sie sich hinter dem Ladentisch wieder und verkaufte die Modelle anderer. Der Job füllte sie weder aus, noch kam er ihrer Ambition entgegen, selbst etwas Neues zu schaffen.
Aber dann nahm sie ihr Schicksal in die eigenen Hände. Des drögen Verkäuferinnen-Alltags müde, arbeitete sie sich mühsam durch die Betriebswirtschaft, belegte Lehrgänge für Marktanalyse und Produktmanagement – bis sie endlich die verantwortungsvolle Stelle als Leiterin des Einkaufs erhielt. Nun konnte sie wenigstens mitbestimmen, welche Artikel in die Boutique kamen. Und sie machte ihre Arbeit wirklich gut. Bald kannte sie ihre Stammkundschaft so genau, dass sie intuitiv die richtige Wahl traf. Die Damen dankten es ihr, indem sie häufig wiederkamen.
In der Boutique arbeitete auch Veronika Bauer. Veronika war wohl Barbaras beste Freundin. Sie kannten sich schon seit der Zeit, als Barbara mit Ilsa schwanger ging. Damals arbeitete sie die junge Frau ein, damit sie für das Baby zu Hause bleiben konnte. Seit diesen Tagen verband sie eine innige Freundschaft.
Veronika hatte von Natur aus schönes kastanienbraunes Haar, welches in sanften Wellen über ihren Nacken und Rücken floss. Sie hatte es sich zum Markenzeichen gemacht, vorn links eine leuchtendrote Strähne zu tragen. Damit wurde sie bei den Kundinnen bekannt, und die Erwähnung dieser Strähne führte die Damen automatisch zu ihr.
Abgesehen von dieser Eigenheit, war Veronika ein herzensguter Mensch, der niemandem eine Bitte abschlagen konnte. Manchmal schaute sie etwas melancholisch, weil sie noch nicht den für sie perfekten Mann gefunden hatte. Aber da sie fünf Jahre jünger war als Barbara, schien noch nichts verloren.
»Vroni, kommst du mal bitte!«
Barbara rief aus dem Lager nach ihrer Kollegin.
Veronika eilte nach hinten, da gerade keine Kundinnen im Geschäft waren.
»Was gibt's, Babs?«
Trotz intensiver Suche konnte Barbara ein bestimmtes Kleid nicht finden.
»Weißt du, ob das dunkelblaue Cocktailkleid für Frau Westphal schon geliefert wurde?«
»Es gab Lieferprobleme mit den Sternpailletten.