Der Sommer mit Josie. Sandy Lee

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Der Sommer mit Josie - Sandy Lee

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sollst du wissen, dass es nichts gibt, was ich dir übelnehme. Es gibt für alles eine Erklärung, und ich bin bereit, dich anzuhören, dir zu helfen. Aber um das zu können, muss ich dich verstehen. Also sei bitte offen, denn alles, was hier unausgesprochen bleibt, quält dich und mich. Du bist mein Kind und wirst es immer bleiben. Hab keine Angst!«

      Diese Sätze gingen nicht leicht über ihre Lippen. Sie gab ihrem Sohn einen großen Vertrauensvorschuss, und sie hoffte, er würde die Chance ergreifen, ihr dieses Vertrauen im gleichen Maße entgegenzubringen.

      Daniel holte tief Luft. Doch ehe er beginnen konnte, nahm ihm seine Mutter am Arm und führte ihn ins Wohnzimmer.

      »Das sind keine Küchenschürzengespräche.«

      Sie setzten sich an den Couchtisch, Barbara auf das Sofa, Daniel in den Sessel neben ihr.

      Barbara legte ihre Hand auf seine Schulter.

      »So ist es doch viel besser.«

      Daniel begann. Seine Stimme zitterte, als er die ersten Worte suchte.

      »Mama … das mit dem Kleid … also das ganze Umziehen …«

      Er stockte. Er musste etwas sagen, und er musste es jetzt.

      Barbara sah ihn an und schwieg. Sie durfte auf keinen Fall auf eine Antwort drängen. Und ihr Blick sagte ihm, dass sie das auch nie tun würde.

      Daniel nahm all seinen Mut zusammen, um den einen, den alles erklärenden, aber auch alles verändernden Satz zu sagen.

      »Mama … ich glaube … ich glaube, dass ich … ein Mädchen bin.«

      Er schloss die Augen, um nichts mehr sehen zu müssen. Dieser Satz hatte ihn so unendlich viel Kraft gekostet. Die Leere, in die er jetzt blickte, wirkte dagegen wohltuend.

      Barbara sagte nichts. Sie wusste, was diese Aussage bedeutete – für ihn, für sie, für alle. Und wenn das alles, was sich hier abspielte, wahr war, dann würde es einen harten Kampf geben. Dann musste die ganze Familie zu ihm stehen, seine Freunde, alle. Denn Daniel würde jeden einzelnen brauchen, um diesen Kampf zu gewinnen.

      Sie war jetzt die einzige Mitwisserin eines großen Geheimnisses. Und sie hatte Angst. Angst, dass ihr Kind das ganze Ausmaß dieses einen Satzes noch gar nicht übersehen konnte. Ja, sie selbst stand jetzt vor einer großen Aufgabe. Sie musste sich absolut sicher sein, dass dieses Gefühl ihres Kindes tief verankert und von Dauer war. Dann würde sie ihn darin bestärken, seinen Weg zu gehen. Auch wenn es – im Augenblick – ein für sie sehr schmerzhafter Weg zu sein schien.

      »Es ist gut, okay, es ist gut.«

      Barbara zog seinen Kopf an ihren heran.

      Daniel schluchzte. Er hatte die Augen wieder geöffnet. Und er sah seine Mutter, ruhig und liebend. Die Gefühle brachen aus ihm hervor. Es war ein Gewitter von Gefühlen. Seine Mutter konnte mit der Tatsache umgehen. Jedenfalls sah es danach aus. Aber diese Situation würde sich wiederholen. Sein Vater, seine Schwester, die Familie … Wie würden seine Freunde reagieren, wie all die anderen? Er wusste, dass sich sein Weg hier und heute an einer Gabelung befand. Wenn er sich einmal für einem Abzweig entschieden hatte, würde es kein Zurück mehr geben.

      Die Tränen trübten seinen Blick.

      Barbara war in die Küche gegangen, um für beide eine Tasse Tee zu bereiten. Zeit … Daniel brauchte jetzt Zeit. Wenn er sich wieder etwas gefasst hatte, wollte sie ihm einige wichtige Fragen stellen. Kleine Fragen, keine bedeutenden. ›Nur nicht löchern, sonst blockt er ab‹, schoss es ihr durch den Kopf. ›Und dann erfahre ich vielleicht gar nichts mehr.‹

      Sie kam mit den Teegläsern in das Wohnzimmer, stellte etwas Gebäck daneben.

      »Na, komm! Nimm dir was!«

      Sie lächelte.

      »Nervennahrung.«

      Daniel sah sie an.

      »Nervennahrung? Gebäck?«

      Auch über sein Gesicht huschte ein Lächeln.

      Am Abend lag Barbara noch lange wach im Bett. Es war ein aufregender Tag gewesen, wie es nicht viele gab. Und sie musste sich eingestehen, dass, obwohl sie sich sehr müde fühlte, noch eine Menge Fragen in ihrem Kopf kreisten.

      Beide hatten vereinbart, Ilsa vorerst nichts von den Ereignissen am Nachmittag zu erzählen. Solange zwischen Daniel und seiner Mutter nicht alles Wesentliche besprochen war, dürften weitere Mitwisser nur neue Probleme bringen. Und das war das Letzte, was Barbara jetzt gebrauchen konnte.

      Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf. Und mit einem Schlag erschrak sie. –

      War es das? War das der Grund?

      Barbara wälzte sich auf die andere Seite. Draußen schien der Mond vom wolkenlosen Himmel durch die Spalte der Jalousie und erzeugte ein Streifenmuster auf der Bettdecke.

      Sie rekapitulierte. Es gab Ereignisse in Daniels Kindheit, mit denen sie nichts anzufangen wusste. Er hatte sich dann so … untypisch verhalten. Nicht, dass sie sich Sorgen gemacht hätte. Er war ja gesund, und viele dieser Episoden waren nur von kurzer Dauer. Hendrik hatte das wahrscheinlich überhaupt nicht mitbekommen. Doch sie hatte ihr Kind in solchen Momenten genauer beobachtet.

      Barbara versuchte, sich diese Augenblicke in Erinnerung zu rufen. Am Anfang gab es nichts Auffälliges. Kindergarten, Grundschule … Es musste wohl in der vierten Klasse gewesen sein, als sie sich das erste Mal Gedanken über die Psyche ihres Jungen gemacht hatte. Damals, als Sandy neu in die Klasse kam.

      Sandy Stolz … Ihre Eltern waren in den Sommerferien hierher gezogen. Im neuen Schuljahr erschien sie plötzlich in Daniels Klasse.

      Ihr Sohn hatte zu Hause strahlend von der neuen Mitschülerin berichtet. Und zum Stadtfest im Herbst hatte er sie ihnen gezeigt, als sie mit ihren Eltern über den Markt ging. Sie war ein aufgewecktes, ausgesprochen hübsches Mädchen. Tiefschwarze Haare hatte sie, zu einem langen Zopf gewunden. Und einen südländischen Teint. Das kam wohl daher, dass ihr leiblicher Vater Italiener gewesen sein sollte.

      Barbara merkte, dass sie abschweifte. Sie spürte das Verlangen, etwas zu trinken. Leise stand sie auf, um sich ein Glas Wasser zu holen. Es war aber heute auch heiß gewesen. Sie schaute auf das Thermometer neben der Tür. Über fünfundzwanzig Grad – da brauchte sie sich nicht zu wundern.

      Nach einem Schluck von dem kühlen Nass kehrten ihre Gedanken zurück.

      Daniel fühlte sich damals gleich irgendwie mit Sandy verbunden. Eines Tages brachte er sie mit nach Hause und verkündete: »Das ist Sandy, meine Freundin.«

      Freundschaft mit zehn Jahren kann vieles bedeuten, deshalb sagte dieser Satz erst einmal gar nichts. Es geschah ja auch nichts, was für die Eltern bedenklich aussah. Absolut nichts. Und trotzdem schien es manchmal, als ob Daniel das Mädchen fast … vergötterte. Was, wenn er in ihr ein Spiegelbild seiner selbst sah?

      Barbara rieb sich mit dem Mittelfinger die Stirn über der Nasenwurzel. Das passierte oft, wenn sie tief in Gedanken war.

      Ihr war damals auch nicht entgangen, mit welchem Stolz er Sandy von seiner Mutter und ihrer Arbeit in der Boutique erzählte. So begeistert hatte er von Hendriks Job nie gesprochen.

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