Der Mörder. Georges Simenon

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Der Mörder - Georges  Simenon Die großen Romane

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der bedeutete, dass das alles so unwichtig war!

      Er rasierte sich und zog sich an, und in seinen Gedanken mischte sich Neel unter seine Sorgen. Er betrachtete sich aufmerksamer als sonst im Spiegel und fand sich ein wenig aufgedunsen. Es war nicht das erste Mal. An manchen Tagen war sein Fleisch weicher, und das machte ihm jedes Mal Angst.

      Was würde jetzt auf ihn zukommen? Er sah den Kanal unter seinem Fenster und die kahlen Bäume. Die Glocke ertönte, und er schloss aus verschiedenen Geräuschen, dass man die ersten Patienten ins Wartezimmer einließ.

      Vor allem musste er sich weiterhin über die Abwesenheit seiner Frau wundern und bei der Polizei in ein oder zwei Tagen eine Vermisstenanzeige aufgeben! Das war leicht, er hatte es gerade bei Neel erlebt. Er, der früher nie lügen konnte, fühlte sich in seiner Rolle sehr wohl.

      Was konnte ihn schon verraten? Niemand hatte ihn gesehen. Wie sollte man darauf kommen, dass er aus dem fahrenden Zug ausgestiegen war?

      Er verließ sein Zimmer und betrat den Salon. Er musste beinahe lächeln, denn dieser Salon hatte seine Geschichte. Vor etwas mehr als einem Jahr hatte Alice erklärt, der Salon sei nicht mehr modern genug. Sie hatte sich aus Amsterdam und Den Haag Kataloge kommen lassen. Ihr Mann wollte lange nicht anbeißen, denn es war eine unnötige Ausgabe, und ihr alter Salon konnte sich durchaus noch sehen lassen.

      Dann hatte er sich entschieden.

      »Du bekommst deinen Salon …«

      Drei Tage danach hatte er den anonymen Brief erhalten! In dem Augenblick, als seine Frau ganze Tage damit verbrachte, Stöße von Mustern für die Tapeten, die Tischdecke und den Spannteppich durchzublättern …

      Er betrat seine Praxis und öffnete die Tür zum Wartezimmer, wo schon fünf Personen saßen. Bald würden es zwanzig sein, denn er machte Behandlungen für einen Gulden. Er hatte seinen weißen Kittel übergezogen. Er war auf dem Posten, beherrscht und würdig wie immer. Er sah sich buchstäblich selbst. Er war mit sich zufrieden.

      Eine Frau brachte einen Jungen mit Schorf im Gesicht herein, und er nahm einen Rezeptblock, um eine Salbe zu verschreiben. In diesem Augenblick erbleichte er und fühlte von neuem die Beklemmung in seiner Brust.

      Jemand wusste Bescheid! Er hatte an alles gedacht, nur an dies nicht! Jemand wusste Bescheid oder könnte jedenfalls Bescheid wissen! Wie hatte er diesen Punkt nur übersehen können?

      Das Schlimmste war, dass er überhaupt nicht wusste, wer dieser Mann (oder diese Frau) war. Es handelte sich um die Person, die den anonymen Brief geschrieben hatte!

      Diese würde alles begreifen, sobald sie von dem doppelten Verbrechen erfuhr.

      Wer war es nur? Einer seiner Freunde des Onder de Linden? Warum nicht Neel, die über alles auf dem Laufenden war?

      Wo hatte er bloß seinen Kopf gehabt? Er erschrak. Neel war natürlich über alles auf dem Laufenden, da sie Alice Kuperus jedes Mal weggehen sah, wenn der Doktor nach Amsterdam fuhr! Sie hatte nie etwas gesagt!

      Alice musste ihr Schweigen erkauft haben …

      Die Formel für die Salbe fiel ihm nicht mehr ein. Einen Augenblick lang fragte er sich, was das Kind mit dem Schorf bei ihm überhaupt zu suchen habe. Schließlich seufzte er, schrieb, öffnete die Tür für den Nächsten, einen alten Mann, der an Zwischenrippenneuralgien litt.

      Hatte Neel den anonymen Brief geschrieben? …

      Er hatte sich nicht geirrt: Am Vormittag waren zweiundzwanzig Patienten da, und um elf Uhr unterbrach er wie immer die Sprechstunde, um eine Tasse Tee zu trinken und ein Butterbrot zu essen.

      Beides wurde ihm ins Esszimmer gebracht, das nach Bohnerwachs roch, denn es war der Tag, an dem das Parkett gebohnert wurde. Etwas trieb ihn, in der Küche herumzustreichen und sich bei dem Dienstmädchen herumzudrücken.

      »Möchten Sie etwas?«, fragte sie.

      Das Merkwürdigste war, dass er sie immer noch begehrte. Er fragte nur:

      »Frau Doktor ist noch nicht zurückgekommen?«

      »Nein … das wundert mich …«

      So musste er bis fünf Uhr durchhalten, denn dann konnte er ins Café gehen, wo er seine Freunde treffen und wo man sicher über Schutter sprechen würde.

      Er aß allein zu Mittag. Im Spiegel beobachtete er Neel.

      »Hat es dir Spaß gemacht heute Nacht?«

      »Warum fragen Sie?«

      »Möchtest du wieder?«

      »Sie wissen doch genau, dass Frau Doktor zurückkommt … Ich glaube, wenn sie wüsste …«

      Was könnte es ihm nach all dem noch ausmachen, ins Gefängnis zu gehen? Er kannte den Richter, Antoine Groven. Auch er war Billardspieler, allerdings ein schlechter, denn er war kurzsichtig. Er würde am einen Ende des Tisches sitzen, Kuperus und sein Anwalt am anderen. Ob ihn der Richter auch dann noch Hans nennen würde?

      Er nahm seine Arzttasche und zog seinen Pelz an, um in der Stadt Krankenbesuche zu machen. Auf dem großen Kanal lagen Dutzende von Schiffen eng beieinander und miteinander vertäut, das Beben ihrer Schwerölmotoren erfüllte die Luft. Es war Viehmarkt, und man lud die Tiere aus, die auf den Kanälen vom Land in die Stadt transportiert worden waren.

      Kuperus musste den Rathausplatz überqueren. Er warf einen Blick auf Schutters Haus. Keiner außer dem Rechtsanwalt leistete sich einen Diener mit gestreifter Weste und einen Butler, der ihn im Frack und mit weißen Handschuhen bediente!

      Kuperus begnügte sich mit Neel und einer Putzfrau, die zweimal in der Woche kam.

      Und wenn die Putzfrau den anonymen Brief geschrieben hatte? Er hatte sie sich nie richtig angesehen. Er kannte sie eigentlich nicht. In seinen Augen war sie eine ziemlich hässliche, kleine, einfältige Frau, ein Haufen schwarzer Röcke mit ewig wirrem Haar …

      … Ein Scharlachfall … Anderswo kündigte sich eine Entbindung an, bestimmt etwas für den nächsten Tag, vielleicht auch für die Nacht? … Im Dezember hatte man ihn genau sechsundzwanzigmal nachts zu einer Entbindung gerufen!

      Als er um fünf Uhr endlich ins Café trat, war er erschöpft, aber ohne ersichtlichen Grund. Denn er hatte nicht mehr Konsultationen und Krankenbesuche als an anderen Tagen hinter sich. Nur war in ihm so etwas wie ein Uhrwerk, das zu schnell lief.

      Er stellte die Arzttasche in die gewohnte Ecke. Der alte Jef nahm ihm den Pelz ab. Er drückte Pijpekamp, Van Malderen und de Loos die Hand.

      »In diesem Winter wird man gar nicht Schlittschuh laufen können«, sagte Van Malderen, der Rechtsanwalt. »In der einen Nacht friert es, und gleich darauf taut es wieder …«

      In dem ruhigen Raum gab es eine Uhr, die auf Kuperus schon immer großen Eindruck gemacht hatte. Sie war sehr hoch. Das Zifferblatt, eine blassgraue Scheibe mit römischen Ziffern, hatte nichts Auffallendes. Aber da war noch das Pendel, ein gewaltiges kupfernes Pendel, auf dem sich immer ein leuchtender Widerschein zeigte, und wenn man dieses Pendel ansah, schien es, als seien dort, aber nur dort, die Sekunden länger als anderswo.

      Daran war im Übrigen etwas Wahres. Es war mild. Der Rathausplatz mit seinen kleinen holprigen Pflastersteinen

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