Nicolae: An der Quelle - Band 7. Aurelia L. Porter
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Mutti hatte mich gewarnt, die Engländer hätten es nicht so mit der Reinlichkeit. Okay, ich muss nicht vom Fußboden essen können wie bei uns zu Hause, wo Mutti alles mit Ata scheuert und mit Sagrotan nachbearbeitet, sodass nicht der winzigste Keim eine Überlebenschance hat, aber das hier …? Zumutung – lautet das Wort, das mir dazu einfällt.
Naja, ich hätte es ja wesentlich luxuriöser haben können im Hotel. Aber hier kann ich wenigsten tun und lassen, was ich will, ohne dass ich mich an irgendwelche Anstandsregeln halten muss, von denen ich
ohnehin wenig Ahnung habe. Es ist sehr angenehm, mal ohne Muttis ewige Ermahnungen einfach nur in den Tag hineinzuleben.
Sitz gerade, sonst kriegst du einen Buckel! Nimm den Kaugummi aus dem Mund! Schlag die Beine übereinander! Mach den Mund zu, es zieht! Und vor allem: Lächle, sonst kriegst du keinen Mann!
Warum hat mir mein unbekanntes Tantchen nicht einfach ein Bed & Breakfast an der Promenade gebucht, mit einer typisch englischen Landlady, die mich nach Strich und Faden verwöhnt? Das hätte ich mir gefallen lassen! Orange juice und ham and eggs zum Frühstück kenne ich nur aus dem Englischbuch in der Schule. Zu Hause gibt’s immer Marmeladenbrot zum Caro-Kaffee und sonntags auch mal Rosinenstuten mit einem hart gekochten Ei. Klöben, sagt Mutti dazu, und zum Kaffee Muckefuck. Echten können wir uns nicht leisten, den gibt’s nur zu Feiertagen.
Zum Abendbrot werde ich mir eine kalte Fleischpastete reinwürgen, und sie mit Cola runterspülen. – Wenn das Mutti wüsste!
TAG 2
Am Morgen
Ich bin völlig gerädert. Und aufgeregt!
Gestern Abend, als ich mich aufs Sofa hauen wollte, bin ich über die jetzt frei liegende Teppichkante gestolpert. Sie blieb umgeschlagen liegen. Als ich sie wieder richten wollte, fiel mein Blick auf eine lose Bodendiele unterhalb des Sofas. Darum schob ich es ein wenig zur Seite. Etwas Helles schimmerte aus dem Spalt hervor, und als ich die Diele anhob, erblickte ich drei gebündelte Briefe und ein Tagebuch.
Klar, dass ich sie sofort aus ihrem Versteck holte, eingestaubt und vergilbt, wie sie da wer weiß wie lange schon lagen und darauf warteten, gelesen zu werden. Ich habe mir zunächst das Tagebuch vorgenommen. Es ist in rotbraunes Leder gebunden, mit Goldschnitt, prall gefüllt mit hauchfeinen Seiten und einer energischen, ebenmäßigen Handschrift. Es stammt noch aus dem letzten Jahrhundert und beginnt mit dem 16. Februar 1882. Fast achtzig Jahre ist das jetzt her! Die unbekannte Schreiberin ist anscheinend eine schon etwas ältere Londoner Wissenschaftlerin, die kurz vor der Hochzeit steht. Doch dann bringt ein plötzlich auftauchender ausländischer Graf, den sie von früher kennt und das Mysterium nennt, ihre Gefühle völlig durcheinander. Er ist von einer seltsamen Macht umgeben und manipuliert sein Umfeld, ohne dass dieses es überhaupt bemerkt. Nur sie durchschaut ihn und kann sich ihm trotzdem nicht entziehen. Schlimmer noch, sie fühlt sich zu ihm hingezogen, obwohl sie sich mit aller Kraft dagegen wehrt.
Der Graf stellt sich ein paar Zeilen später als Vater ihres Neffen und ihrer Nichte heraus, dem sie einst geholfen hat, diese großzuziehen. Doch das war in einem anderen Leben, mit dem sie abgeschlossen zu haben hoffte. Ein ominöses Amulett, welches sie in einer Silberschatulle vergraben hatte, die sie nun wieder ans Licht geholt hat, scheint der Schlüssel zu allem zu sein. Es birgt all ihre Erinnerungen, die in ihrem neuen Leben keinen Platz mehr haben dürfen. Sie weiß: wenn sie die Schatulle öffnet, öffnet sie eine Tür zur Vergangenheit – und damit zu ihm, den sie ebenso verabscheut wie begehrt. Der Zwiespalt, in dem sie steckt, ist furchtbar und droht sie zu zerreißen. Selbst ihre Heirat mit einem Neurologen, den sie zärtlich liebt, kann diesen Spuk nicht beenden. Immer größer wird ihre Sehnsucht nach dem geheimnisvollen Grafen …
Ich kann es kaum erwarten, zu erfahren, wie es weitergeht! Ich wünschte nur, ich könnte schneller lesen. Aber erstens habe ich Mühe, die geschwungene Handschrift im Kerzenschein zu entziffern, und zweitens muss ich viele Wörter in meinem Langenscheidt nachschlagen. Das hält ziemlich auf. Letzte Nacht habe ich gelesen, bis mir die Augen zufielen. Da wurde es bereits wieder hell.
Später am Tag
Ich habe in einem Tea-Room eine Tasse Tee getrunken und ein Sandwich gegessen. Anschließend bin ich auf der Promenade spazieren gegangen, denn es ist heute ein herrlicher Sommertag.
Ich sollte mir einen Strohhut kaufen. Zu viel Sonne bekommt mir nicht. Das habe ich mit den Engländern gemeinsam. Sie laufen hier alle rot wie die Krebse herum.
Ich habe mir den Guardian mitgebracht.
Die heutige Schlagzeile: Das Ober- und das Unterhaus stimmen dem Beitritt Großbritanniens zur EWG zu.
Na, also. Wir wachsen zusammen, zumindest wirtschaftlich. Dafür droht in Berlin die Zonengrenze geschlossen zu werden, wie ich dem winzigen Artikel auf der letzten Seite „Aus aller Welt“ entnehme. Die Flüchtlingszahlen aus Ost nach West sollen in den letzten Tagen weiterhin drastisch angestiegen sein.
Komisch, diese Meldung scheint mit mir nicht mehr das Geringste zu tun zu haben. Berlin ist plötzlich so weit weg. Nicht nur geografisch.
Ich muss zurück zu Judiths Tagebuch, denn so heißt die fleißige Tagebuchschreiberin.
Am Nachmittag
Was für Wechselbäder der Gefühle. Die Ärmste!
Alles ist wieder im Lot, schrieb Judith am 4. März 1883. Sie hatte beschlossen, die Finger von der Schatulle zu lassen, und schien ihren Seelenfrieden wiedergefunden zu haben. Ein ganzes Jahr lang erfolgte kein Eintrag. Man kann also davon ausgehen, dass sie in dieser Zeit eine glückliche Ehe mit ihrem Edward führte, in der ihr entweder nichts Außergewöhnliches widerfuhr oder in der sie einfach keine Zeit fand, ihr Tagebuch zu führen. Seiten wurden jedenfalls keine herausgerissen.
Zu meiner großen Überraschung hat sie nach der langen Zeit dann doch noch die Schatulle geöffnet – und damit all ihre Erinnerungen und Sehnsüchte freigesetzt.
Warum tat sie das? Sie wusste doch um die Gefahr …
Etwas später
Sie wolle Gewissheit, schreibt sie, denn sie sei eine Frau der Wissenschaft – ungewöhnlich für die Zeit, in der sie lebte.
Und prompt beginnt sie an ihrer Ehe zu zweifeln. Wie eine Droge wirkt das Amulett, sie kann einfach nicht davon lassen. Je häufiger sie es zur Hand nimmt, desto größer wird ihr Verlangen danach – und natürlich nach IHM, dem ominösen Grafen. Eine unbändige Liebe entbrennt in ihr, aufregend und verboten!
Aber dies ist kein kitschiger Liebesroman aus viktorianischen Zeiten. Es ist das Tagebuch einer vernunftbegabten Frau Ende des letzten Jahrhunderts. Sie hat tatsächlich existiert.
Wie können Erinnerungen so viel Macht über einen haben? Wie kann überhaupt etwas oder jemand so viel Macht über einen haben?
Judith quält sich mit dieser Sünde und glaubt, ihren Mann jeden Tag gedanklich und in ihren Träumen zu betrügen, was er – der beste Ehemann aller Zeiten – nicht verdient habe. Trotzdem kann sie nicht anders. In ihrer Not wendet sie sich an ihre Freundin Jane, die in einem Cottage in der Grafschaft Kent wohnt.