Nicolae: An der Quelle - Band 7. Aurelia L. Porter
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Daraufhin rät Jane Judith doch tatsächlich, das Tagebuch zu verbrennen! Was diese Gott sei Dank nicht getan hat. Auch schreibt sie davon, die verfänglichen Seiten heraustrennen zu wollen, was sie offenbar ebenso unterlassen hat. Stattdessen hat sie – oder Jane? – es hier versteckt.
Anfang Februar reist Judith nach Irland zu ihrer Granny Bridget, die inzwischen schon steinalt ist. Diese feiert mit ihr und den Bewohnern des Fischerdorfs, in dem sie lebt, das Lichterfest Imbolc. Und nun erfahre ich endlich, dass Judiths Großmutter die Hohepriesterin eines alten Druidenordens ist und Judith als Nachfolgerin bestimmt war. Doch diese fand mit ihrem wissenschaftlich geprägten Verstand keinen Zugang zu der Welt ihrer keltischen Ahnen, weswegen ihre jüngere Schwester auserkoren wurde, die es – wie bereits ihre Mutter zuvor – mit dem Leben bezahlen musste. Der Graf – das Mysterium, der Wächter mit dem Schlüsselbund, der dakische Hohepriester – hatte den Auftrag, nun Judith auf diese Aufgabe vorzubereiten. Es wäre ihm fast gelungen, wenn sie sich ihm nicht kurz zuvor wieder entwunden hätte, aus Furcht vor dem Unbegreifbaren. Aus Furcht vor sich selbst.
So stand es dort natürlich nicht, aber ungefähr. Es ist alles etwas nebulös. Immerhin habe ich eine vage Idee bekommen.
An genau der Stelle ist mir das Tagebuch aus der Hand gerutscht und zu Boden gefallen. Dabei haben sich einige, anscheinend nachträglich eingefügte Seiten gelöst. Ich bin zu müde, um sie zu sichten und zu
ordnen, das muss bis morgen warten. Jetzt will ich nur noch schlafen.
TAG 5
Vor dem Frühstück
Ich habe lauter wirres Zeug geträumt und bin mit dem Gefühl aufgewacht, nicht eine Sekunde geschlafen zu haben. Wie immer.
Alles purzelte heute Nacht durcheinander: Meeresrauschen, blaue Augen, das Lichterfest – Letzteres so klar und deutlich, als wäre ich selbst dabei gewesen. Ich meine, wir haben Sommer, es war heute Nacht extrem stickig in der Bude, und doch stand ich an einem eisigen Februarmorgen frierend am Strand, umgeben von einem Lichterkranz, um gemeinsam mit meinen Brüdern und Schwestern das erste Frühlingslicht zu begrüßen, das sich langsam über den Horizont erhob, sich fast unmerklich über dem Meer ausbreitete und schließlich über uns ergoss. Ich sah die vor Frost zitternden Zweige, lauschte den Gesängen der Weißgewandeten, vernahm ihre alte Sprache und erkannte sie wieder, die Melodie, welche ich tags zuvor unten in der Bucht gehört hatte – hier in dieser Welt, in diesem Jahrhundert! Wie kann das sein? Und ich blickte in Granny Bridgets Augen, die von einem irisierenden Blau waren, so wie die des Lackaffen! Ich bin zwei-, dreimal völlig verschwitzt aufgewacht und habe, um mir Kühlung zu verschaffen, den Kopf aus dem Fenster gesteckt. Da war mir, als hörte ich wieder dieses Flattern. Aber ich konnte rein gar nichts erkennen, zumal der Mond immer wieder hinter den schnell ziehenden Wolken verschwand.
Wenig später – glaube ich jedenfalls – zog Sturm auf und fegte brausend durch die Bäume im Garten, sodass ich schon Sorge hatte, er würde das Dach abtragen. Aber es ist ja mit Reet gedeckt, es hält bestimmt den stärksten Seewinden stand. Beruhigt döste ich wieder ein und träumte von allerlei, an das ich mich nicht mehr erinnere. Bis ich in der Ferne das erste Grummeln vernahm. Der Schreck hierüber ließ mich senkrecht vom Sofa hochfahren. Einen Blitzableiter hat diese Bude nämlich nicht und das Reetdach brennt bestimmt wie Zunder! Ich stand auf und schaute aus dem Fenster. Der Mond war inzwischen weitergewandert. Aber es hätte ihn ohnehin nicht gebraucht, denn das Wetterleuchten tauchte die grüne Hölle da draußen für Sekunden in ein unwirklich grelles Licht. Und da sah ich deutlich einen Hund. Er stand direkt unter der Linde und äugte zu mir her. Mir wurde ganz anders. Ich prüfte umgehend, ob die Haustür richtig verschlossen war, und machte vorsichtshalber sämtliche Fenster zu. Wie sollte ich wissen, ob der Köter nicht durch sie hereinkäme, wenn der Hunger ihn dazu trieb. Ich habe keine Erfahrung mit Hunden. Mutti kann sie nicht ausstehen, diese Kläffer, die überall ihr Bein heben und alles ansabbern. Aber kurz darauf glaubte ich zu ersticken, während sich draußen die Luft endlich auf ein erträgliches Maß abkühlte. Also sah ich mich gezwungen, das Fenster wieder einen Spalt breit hochzuschieben. Dabei hielt ich nach dem Hund Ausschau, aber er war nicht mehr da. Ich legte mich wieder hin und versuchte mir einzureden, dass ich ihn mir nur eingebildet hatte.
Ob ich mich dafür verfluche, dass ich nicht im Palace Hotel abgestiegen bin? Ja doch!
Nach dem Frühstück
Also Frühstück ist nun wirklich zu viel gesagt. Es war eine Packung Biscuits mit Custard Cream.
So langsam rebelliert mein Gedärm. Es weigert sich, den Kram zu verdauen, den ich seit Tagen in mich hineinstopfe. Wie bei unseren Nachbarn daheim kommt nur noch laue Luft.
Draußen ist alles nass und es ist merklich abgekühlt. Aber die Sonne tut ihr Bestes, um die aufsteigenden Dunstschichten zu durchdringen. Es dampft von allen Seiten. Die Vögel singen nicht, sie schrillen vor Entzücken. Offenbar fühlen sie sich wie neu geboren. Ich hingegen bin von dieser chaotischen Nacht völlig zerschlagen.
Die Wassermassen, die in den frühen Morgenstunden unaufhörlich heruntergerauscht kamen, ließen mich schon befürchten, dass aus meiner Bude eine Arche Noah würde und ich mich am Morgen auf dem Berge Ararat wiederfände. Also werde ich mich jetzt erst mal eine Runde aufs Sofa hauen und mir den Rest von Judiths Tagebuch vornehmen … und die herausgefallenen Blätter sortieren.
Gegen Mittag
Die Sonne hat den Kampf gegen den Dunst verloren. Draußen ist inzwischen alles zugezogen und es fällt ein feiner Regen – ein frischer Landregen, wie Mutti dazu sagen und wie immer hinzufügen würde: gut für die Vegetation. Als ob diese hier es nötig hätte, es ist das reinste Gewächshaus!
Aber jetzt will ich schnell von Judith berichten, bevor ich mich auf den Weg in den Ort mache. Ich brauche nämlich dringend eine anständige Mahlzeit, mir ist schon ganz blümerant. – Ja, Mutti, du hast mal wieder recht behalten!
Anfang März kehrt Judith nach London zurück, hält es an der Seite ihres Gatten aber nicht aus und fährt wieder hierher zu Jane. Sie sprechen viel über Granny Bridget und die Weisen der Altvorderenzeit. Diese hätten in steter Zwiesprache mit der Natur und mit Gott gestanden, der in allem wohne und alles beseele. Judith erhält damit eine Erklärung für ihre nächtlichen Träume. Sie sind etwas tief in ihr Verborgenes, das an die Oberfläche drängt und ein längst vergessenes Wissen freisetzt, ein Wissen um bestimmte Kräfte und den großen universellen Zusammenhang.
Doch dann folgt die Tragödie schlechthin. Judith bekommt ein Telegramm: Edward, ihr Mann, hat sich umgebracht, mit irgend so einem Zeugs, das sie damals bei Schlafstörungen und jedem kleinen Wehwehchen geschluckt haben. Judith begreift dies als Schuldeingeständnis. Ihre bisherige Welt bricht in sich zusammen. Sie glaubt, an Edwards Seite ein Leben in Lüge geführt zu haben. Am Boden zerstört ruft sie nach ihrem rettenden Engel. Dieser kniet plötzlich tatsächlich neben ihr – in Gestalt des Grafen! Er hilft ihr, wieder auf die Beine zu kommen und nimmt sie schließlich zu sich.
Das sind die letzten Zeilen, geschrieben im Mai 1892, die mit der Frage schließen, ob nun alles wieder gut wird.
Das frage ich mich auch!
Aber was ich mich noch viel mehr frage, ist, ob das Amulett wohl noch immer an den Wurzeln der alten Eiche begraben liegt, wo Jane es einst vor Judith versteckt gehalten hatte, damit diese nicht in Versuchung