68er Student. Torsten Ewert
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Philosophie, Mathematik, Medizin, Jura, diese archaischen Fächer, jahrhundertelange Herausforderungen, kamen ihm in den Sinn. Wem oder was sollte er folgen, Lust oder Laune, Münzwurf oder Vergabestelle für Numerus-Clausus-Fächer?
Dann, von allen Überlegungen entbunden und womit er am allerwenigsten gerechnet hatte, kaum geglaubt und im Zweckpessimismus von sich gewiesen, war der Brief mit der Zulassung zum Medizinstudium gekommen, neben der Mathematik einer der Favoriten. Seinen aufkommenden Stolz erstickte er in beherrschter Gelassenheit. Es gab niemanden, dem er sich begeistert hätte mitteilen können, außer den Eltern.
Das braune Pappheftchen – Studienbuch der FU Berlin mit fünfstelliger Matrikelnummer und verschnörkeltem Namensschriftzug – beeindruckte ihn trotz nüchterner Schlichtheit, da es das Privileg vermittelte, Student zu sein.
Auf der ersten Innenseite befand sich das eingelochte Passbild eines jungen Mannes: glattes Gesicht, offener Blick, volles, aus der Stirn gekämmtes, gescheiteltes Haar, Jackett, weißes Hemd, gepunktete Krawatte. Darunter ein amtlicher Stempel und seine eigenhändige, zügig davoneilende Unterschrift, von einem zurückschießenden Strich wieder eingefangen. Auf der nächsten Seite folgten Angaben über die Staatsangehörigkeit: Deutsch, die Fakultät: Medizinische, Tag der Aufnahme: 19.11.68, im Wintersemester 1968/69.
Im Belegblatt trug er eigenhändig die Vorlesungen und Praktika seiner Premierenfächer Physik, Chemie, Zoologie, Histologie und Anatomie ein.
Der große, breitschultrige Bursche neben Peter gab sich mit unverkennbarem Gleichmut der Betrachtung einer Traube aufgeregter Studenten hin, welche an diesem Samstagvormittag die Eingangstür des betongrauen Instituts für Anorganische Chemie belagerten. Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen.
„Erstsemester, pass auf, die Büffelherde stürmt gleich den Saal, ein sinnloser Eifer, keiner kommt zu kurz, primitiver Herdentrieb.”
In der Tat, kaum war die Tür geöffnet, ergoss sich rücksichtslos drängelnd die Menge in die Weite eines nüchternen Raumes mit langgezogenen Arbeitstischen, um einander erstaunt, verloren anzusehen.
Die konkrete Aufforderung des Lehrbeauftragten, sich paarweise zu formieren, schuf gesittete Normalität. Peter, von seinem zufälligen Nebenmann beeindruckt, verhielt sich wie dieser lässig abwartend, und nachdem all die anderen zueinander gefunden hatten, ergaben sie als letzte eine neue Zufallsgemeinschaft.
„Siehst du, die ganze Aufregung umsonst.”
Der von den Medizinern nicht gerade beeindruckte Chemiker gab Anleitung und Einweisung, erwartete selbstständige chemische Analysen und vergab Testate für gelungene, häufig genug abgekupferte Ergebnisse. Die allgemeine Anspannung verflog und der Vormittag verstrich. Nächsten Samstag ging es weiter, dazwischen eingebettet erfolgten die theoretische Vorlesungen des Faches.
Seinen Studienbeginn hatte sich Peter ehrwürdiger vorgestellt.
„Siegfried”, stellte sich der neue Kommilitone vor, dessen blaugraue Augen ihn intensiv musterten, „hast du Lust mit mir in die WiSo-Cafeteria zu gehen? Das ist die letzte Chance, Samstagmittag Kaffee und belegte Brötchen zu bekommen.”
Peters Zustimmung war ihm gewiss, auch dessen Neugier. Was bedeutete WiSo? Ganz sicher, hier war jemand, der sich auskannte im Unibetrieb, vertraut auch mit dem Schlendrian. Woher sonst nahm er seine Überlegenheit, die Peter so unbedeutend dastehen ließ?
Institut für Wirtschaft und Soziales stand auf dem Eingangsschild. Ein geschwätziges Stimmengewirr empfing sie, das reichhaltige Buffet und der Kaffeeduft trösteten über die bisherige Nüchternheit hinweg.
Ein paar Semester Jura hatte Siegfried seinem Bekunden nach in den Wind gesetzt.
„Stinklangweilig, endlose Fälle, die sich wie Kaugummi ziehen. Die Medizin ist schneller, effizienter, mit deutlich mehr Fällen.”
Eine durchaus glaubwürdige und einleuchtende Aussage, vorgetragen voller Selbstsicherheit.
„Am Mittwoch sehen wir uns im Seminar Experimentelle Physik für Mediziner wieder. Schulkram, Newtonsche Mechanik, Gas- und Strömungslehre, Optik. Steht auch alles in den Skripten, die Seminare sind Pflicht. Die Vorlesungen kannst du schwänzen.”
Eine glatte Verleumdung des universitären Lehrplans, zwar noch kein Erdbeben für Peter, aber eine Erschütterung. Dieser Siegfried bewies Überlegenheit durch sachkundige Kritik, oder spielte er sich nur auf? Tatsächlich, auch Letzteres lag in seiner Natur. Er reckte sich, strich mit einer Handbewegung über das glatte, in die Stirn fallende Haar, Spott und Lächeln verflogen, stattdessen zeigte sein Gesicht nun ergreifende Ernsthaftigkeit mit geschürzten Lippen.
„Ich wollte Schauspieler werden, habe Monologe gelernt und vorgesprochen, aber mir saßen nur desinteressierte, herzlose Ignoranten gegenüber, die mit sich selber beschäftigt waren. Wie eine Wand.”
Bitternis klang an, verflog rasch, die momentane Zufriedenheit setzte sich durch und prahlerische Überheblichkeit.
„Daraufhin habe ich dieser verbohrten Engstirnigkeit Paroli geboten und bin Seemann geworden. Ich habe die Ozeane befahren. Hab nie bei einer Liniengesellschaft angeheuert, sondern bin auf freien Schiffen mit stets neuen Routen und Häfen unterwegs gewesen. Der Käpt’n verhandelte die Ladung oder bekam eine neue Order. Da lernst du Land und Leute kennen, was sage ich, die richtige einheimische Welt. Am interessantesten waren die kleinen verborgenen Häfen, landestypisch, ursprünglich, in einem Fjord, im Dschungel oder Niemandsland verborgen. Dort gab es keinen Suff, keine Nutten, keine Schlägereien. Stattdessen sparte ich die Heuer für den Neuanfang in Berlin und besuchte eine Privatschule. Dann bestand ich das externe Abitur und studiere jetzt.”
Peter staunte, ein asketischer Globetrotter voller Dynamik und jetzt stolzer Akademiker, wie er. Ein wie es schien durch und durch anständiger Mensch, der es ausließ, die Sau rauszulassen, in den Tavernen rumzutoben, Weiber und Rum zu genießen, sich einem Seelenverkäufer auszuliefern, das krachende vulgäre Leben mitzunehmen. Stattdessen hatte er sittsam gefestigt bei der christlichen Seefahrt angeheuert und eine Karriere für die Zukunft geplant, während Peter im spontanen Entschluss gehandelt hatte. Zwar war er am Wasser der Nordsee aufgewachsen, hatte aber nie die Leidenschaft aufgebracht, sich der endlosen Weite der Ozeane hinzugeben, sondern im überschaubaren Terrain die Widerstandsfähigkeit einer Landratte erworben, welche dem heimischem Hafen den Vorzug gab.
Die in die Ferne schweifenden Augen seines Gegenübers nahmen noch intensiver die ihm eigene und auch vom Meer vereinnahmte graublaue Farbe an, seine Ohren gleichzeitig die hell leuchtende Morgenröte der aufgehenden Sonne, und eine erkennbare Ergriffenheit ließ ihn verstummen.
„Das nächste Mal mehr … meine Freundin wartet,” fast fluchtartig stob er davon.”
Peter war verblüfft, fragte sich, was er mehr bewundern sollte, wie Siegfried sich aus der Allgemeinheit heraushob, oder wie er die Kontrolle über sich behielt.
Streifzüge durch Westberlin
Samstagnachmittag, Beginn des Wochenendes, der Campus begann sich zu entvölkern. Wie jeder Maurer auch verließen die Studenten ihren Arbeitsplatz, kehrten der Wissenschaft den Rücken, wollten genießen. Peter nahm die U-Bahn zum Bahnhof Zoo. Filmpaläste lockten auf riesigen Plakaten mit markanten Köpfen. Western waren die momentanen Renner. John Wayne, Charles Bronson, Henry Fonda, Clint Eastwood, Klaus Kinski,