Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken. Yusuf Kuhn
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Für jeden, der eine Religion ohne die Erlaubnis Allahs stiftet, gilt, dass die erforderlichen usūl ad-dīn nicht vom Propheten überliefert werden konnten. Denn eine solche Religion ist ungültig, [die] von ihr erforderten [Grundlagen] sind ebenfalls ungültig. (81; Ibn Taymiyya, Darʾ taʿārudh, 1: 41)6
Ibn Taymiyya kritisiert auch die Überdehnung der Bedeutung von Begriffen, die wie beispielsweise hudūth (Entstehen) oder tawhīd (Einzigkeit Gottes) dem Kontext der Offenbarung entnommen werden, um sodann jedoch mit philosophischen Bedeutungen aufgeladen zu werden. Ibn Taymiyya weist diese Bedeutungsverschiebungen, die vom ursprünglichen Sinn wegführen, in vielen Fällen nach.
Die Offenbarung verwendet diese Worte in Übereinstimmung mit der Weise, in der sie von den Arabern verstanden wurden, an die sie in der Absicht, eine klare Botschaft zu vermitteln, gerichtet waren. Die in Kalam und Philosophie begrifflich zugerichteten Ausdrücke unterscheiden sich so grundsätzlich vom koranischen Sprachgebrauch, dass sie nicht als Teil der wahren usūl ad-dīn angesehen werden können.
Darüber hinaus stellt Ibn Taymiyya fest, dass die Methoden des Kalam zu allerlei Verwirrung führen, da jede Kalam-Schule oder sogar jeder einzelne Mutakallim verschiedene Themen und Begriffe in die usūl ad-dīn eingeführt hat und zu jeweils einander widersprechenden Schlussfolgerungen gelangt ist, was zu endlosen Debatten führte. Angesichts der Vielzahl konkurrierender und sich gegenseitig ausschließender Anschauungen erscheint der Anspruch der Mutakallimun auf Gewissheit in ihrer Erkenntnis in einem eigentümlichen Licht.
Ibn Taymiyya bemerkt dazu:
Einige Mutakallimun behaupten, dass alle Fragen der Überlieferung (al-masāʾil al-khabariyya), die sie Fragen der Grundlagen [der Religion] nennen mögen, mit Gewissheit bewiesen werden müssen. Sie behaupten daher, dass es nicht erlaubt ist, in diesen Fragen ohne einen Beweis, der Gewissheit bringt, Überlegungen anzustellen. Und sie verlangen von jedem, in allen diesen Fragen Gewissheit zu erlangen. Aber was sie in solchen unbeschränkten und umfassenden Begriffen sagen, ist falsch, steht im Gegensatz zu Buch, Sunna und Konsens der Salaf und Imame. Zudem sind sie selbst am weitesten von dem entfernt, was sie verlangen, da die Beweise, die viele von ihnen für gewiss halten, falsch sind oder auf Vermutungen beruhen. (82; Ibn Taymiyya, Darʾ taʿārudh, 1: 52)
Wenn ihre Ansichten dem Koran widersprechen, so fährt Ibn Taymiyya fort, bezeichnen sie die betreffenden Verse als mehrdeutig oder ambig (mudschmal oder mutaschābih) und interpretieren sie gemäß ihren vorgefassten Theorien. Da auf diese Weise den eigentlichen usūl ad-dīn etwas hinzugefügt oder diese abgeändert werden, greift Ibn Taymiyya zu einer sehr harten Verurteilung, indem er von usūl dīn asch-schaytān (Grundlagen der Religion des Satans) spricht. Damit will er zum Ausdruck bringen, dass es sich somit um eine andere Religion als den Islam handelt.
Zu den Widersprüchen, in denen sich die Mutakallimun verfangen, rechnet Ibn Taymiyya auch ihre Praxis, ihren jeweiligen Rivalen mit dem Vorwurf des kufr (takfīr; Nicht-Islam) zu begegnen. Obgleich sie davon ausgehen, dass sie sich auf ein rein rationales Verfahren stützen, gebrauchen die Mutakallimun den Ausdruck takfīr, der in den Bereich der Offenbarung und des religiösen Rechts gehört. Zudem geschieht dies im Kontext einer Debatte über Einzelheiten der rationalen Beweisführung, auf den die Bezichtigung des kufr ohnehin keine Anwendung finden sollte.
Dazu legt Ibn Taymiyya dar:
Es ist erstaunlich, dass die Mutakallimun sagen, dass die usūl ad-dīn, deren Leugnung kufr impliziert, allein auf der Basis der Vernunft zu erkennen sind, während sie all das, was nicht durch die Vernunft allein erkannt wird, als Belange der Offenbarung (asch-scharʿiyyāt) betrachten. Das ist die Methode der Muʿtziliten, Dschahmiten und derjenigen, die ihnen folgen, wie die Schüler des Autors von al-Irschād [al-Dschuwaynī].
Es sollte zu ihnen gesagt werden, dass dieses Argument aus zwei Teilen besteht: Erstens, usūl ad-dīn werden durch die Vernunft allein erkannt, nicht Belange der Offenbarung; zweitens, jeder, der diese Grundlagen leugnet, ist ein kāfir [Nicht-Muslim]. Diese Prämissen, die schon an sich ungültig sind, sind auch noch widersprüchlich. Wenn etwas durch die Vernunft allein erkannt wird, bedeutet dessen Leugnung nicht kufr im religiösen Sinn. Denn es gibt nichts in den Belangen der Offenbarung, das bestimmt, dass die Verwerfung von etwas, das allein durch die Vernunft erkannt wird, kufr gleichkommt. Die einzige Ursache für kufr ist eine Leugnung dessen, was vom Propheten überliefert wurde, oder eine Weigerung, ihm zu folgen, während seine Wahrhaftigkeit bekannt ist. (83; Ibn Taymiyya, Darʾ taʿārudh, 1: 242)
2.5 Die Vermeidung des Konflikts zwischen Vernunft und Offenbarung
Eines der wichtigsten Anliegen von Ibn Taymiyya war die Vermeidung des Konflikts zwischen Vernunft und Offenbarung. So lautet auch der Titel eines seiner bedeutendsten Werke: Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql (Vermeidung des Konflikts von Vernunft und Offenbarung).
Darin wird die Position der Mutakallimun zu dieser Frage unter dem Stichwort al-qānūn al-kullī (allgemeine Regel) oder qānūn at-ta’wīl (Regel der Interpretation) behandelt. Die Mutakallimun gehen davon aus, dass das, was durch die Überlieferung erkannt wird, nicht im Einzelnen durch die Vernunft bestätigt werden kann. Daher muss die Gültigkeit der Offenbarung als Ganzes durch die Vernunft erwiesen werden. Der Inhalt der Offenbarung einerseits und die Wahrhaftigkeit des Propheten und seiner Botschaft andererseits sind zwei strikt voneinander getrennte Dinge. Die Gültigkeit der Offenbarung hängt daher davon ab, dass mit Gewissheit bewiesen wird, dass der Prophet tatsächlich von Gott gesandt wurde und dass der Prophet selbst sowie das von ihm übermittelte Wissen als Ganzes wahrhaftig sind.
Um den Mutakallimun zufolge die Offenbarung als Quelle des Wissens zu bestätigen, bedarf es somit einer Begründung durch die Vernunft. Da rationale Beweise mithin als notwendige Voraussetzung für die Anerkennung der Autorität der Offenbarung gelten, folgt daraus die Priorität der Vernunft. Dadurch werden die möglichen Bedeutungen des Inhalts der Offenbarung eingeschränkt. Und wenn es zu einem Widerspruch zwischen dem überlieferten Text der Offenbarung (naql) und den Geboten der Vernunft (ʿaql) kommt, muss der Vernunft der Vorrang eingeräumt und der betreffende Text entsprechend interpretiert werden (ta’wil). Das kann beispielsweise durch eine allegorische Auslegung erfolgen.
Der qānūn at-taʾwīl kommt den Mutakallimun zufolge also im Falle eines Konflikts von Vernunft und Offenbarung zum Einsatz, wenn es ein rationales Gegenargument (muʿāridh ʿaqlī) gibt, das der wörtlichen oder äußeren Bedeutung des offenbarten Textes widerspricht. Da die Gültigkeit der Offenbarung als von einem rationalen Beweis abhängig erachtet wird, muss der Beleg der Offenbarung hinter diesen Beweis zurücktreten. Denn sonst würde die rationale Grundlage für die Gültigkeit der Offenbarung insgesamt erschüttert. Das ist die Position der Mutakallimun.
Ibn Taymiyya hingegen bestreitet schon die Möglichkeit eines Konfliktes zwischen Vernunft und Offenbarung, da seiner Ansicht nach menschliches Wissen nicht in Widerspruch zur Wahrheit der Offenbarung treten kann. Sein Projekt sieht daher eine auf Offenbarung gestützte Rationalität vor.
Er unterscheidet Beweise oder Belege (adilla; Sing. dalīl) dabei auf andere Weise, als dies im Kalam mit der Klassifizierung in die beiden übergeordneten Kategorien von aqlī (vernünftig) und naqlī (überliefert, offenbart) geschieht. An die oberste Stelle treten die Kategorien von der Offenbarung entsprechenden