Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken. Yusuf Kuhn

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken - Yusuf Kuhn страница 19

Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken - Yusuf Kuhn Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken

Скачать книгу

in Wirklichkeit solche Attribute nicht besitzen kann, da Er sonst nicht mehr vollkommen einfach wäre, was die Vernunft doch von Ihm verlangt, sondern zusammengesetzt, nämlich zusammengesetzt aus Seinem einzigartigen unteilbaren Wesen und Seinen vermeintlichen Attributen oder Qualitäten.

      Desgleichen fordert die Vernunft, so heißt es der philosophischen Tradition zufolge weiter, dass Gott nicht das Wissen von irgendeinem besonderen, individuellen, gewordenen Ding zugeschrieben werden kann, da solche Dinge vergänglich sind, in der Zeit entstehen und vergehen und ein Wissen solcher Flüchtigkeiten eine Veränderung in Seinem Wissen bedingen würde. Aber Gott Selbst sagt doch in der Offenbarung: »Kein Blatt fällt herab, ohne dass Er es weiß« (Koran 6: 59).

      So sind die Kampflinien gezogen. Und die Fehde wird ausgetragen.

       3.2.1 Überblick

      In diesem Text wird Ibn Taymiyyas Versuch, den vermeintlichen Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung im islamischen Denken seiner Zeit aufzulösen, in groben Umrissen dargestellt. Dieses Ziel verfolgte Ibn Taymiyya vor allem in seinem großen Werk Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql (Die Widerlegung des Widerspruchs von Vernunft und Offenbarung), das in zehn Bänden 4046 Seiten umfasst.3

      Ibn Taymiyya verfolgt darin das Anliegen, den Gegensatz von Vernunft und Offenbarung zu überwinden, indem die Voraussetzungen und Kategorien, die der Debatte über den Begriff der Vernunft und ihr Verhältnis zur Offenbarung zugrunde liegen, untersucht, kritisiert und neu gefasst werden. Ibn Taymiyya vertritt dabei die Auffassung, dass die klare und reine Vernunft (ʿaql sarīh) und die recht verstandene Offenbarung (naql sahīh) gar nicht in Widerspruch zueinander geraten können. Jeder vermeintliche Gegensatz zwischen ihnen entspringt entweder einem Missverstehen der Offenbarung oder einem verfehlten Verständnis und Gebrauch der Vernunft. Je spekulativer und deshalb zweifelhafter die rationalen Prämissen und vorgängigen Festlegungen sind, desto ausgefallener muss die Offenbarung interpretiert oder nach Ibn Taymiyya »verdreht« werden, um sie in Gleichschritt mit solcher »Vernunft« zu zwingen.

      Carl Sharif El-Tobgui veranschaulicht diese Auffassung in folgender Abbildung mit einer »taymiyyanischen Pyramide«, an deren Spitze gesunde, unverfälschte Vernunft und authentische Offenbarung zusammenstimmen:

      Schaubild 2: Taymiyyanische Pyramide

      Wahrheit ist der Punkt der Einigkeit, Klarheit und Gewissheit (yaqīn), an dem das Zeugnis der gesunden Vernunft und der authentischen Offenbarung völlig übereinstimmen. Am Gegenpol liegen Sophisterei (safsata) im Vernunftgebrauch und Allegorisierung (qarmata; abgeleitet von qarāmita, einer ismaʿlitischen Gruppe, die für ihre äußerst esoterische Interpretation des Koran bekannt war) der Offenbarung. Je weiter die Entfernung vom Einklang zwischen Vernunft und Offenbarung desto größer wird die Uneinigkeit (ikhtilāf) und Zweifelhaftigkeit, selbst in grundlegenden Fragen, in absteigender Reihenfolge ausgehend von den Aschʿariten über die Muʿtaziliten bis hin zu den falāsifa (Philosophen).

      Die Debatte um das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung drehte sich weitgehend um die Frage der Attribute Gottes. Die Offenbarung beruht nicht nur darauf, dass Gott überhaupt existiert, sondern auch als besonderes Wesen mit bestimmten intrinsischen und irreduziblen Eigenschaften. Doch manche dieser Eigenschaften wurden von verschiedenen Gruppen wie den falāsifa, Muʿtaziliten und Aschʿariten als rational unhaltbar erachtet, da sie zu einer unzulässigen Angleichung Gottes an erschaffene Dinge (taschbīh) führen müssten oder im Widerspruch zu den rationalen Argumenten stünden, die zum Beweis der Existenz Gottes vorgebracht wurden. Als Abhilfe für dieses Problem wurde die Leugnung oder Reinterpretation der entsprechenden Eigenschaften oder Attribute angeboten. Die sowohl der Lösung wie auch der Stellung des Problems zugrunde liegende Ansicht beruht auf der Annahme, dass es einen grundlegenden Widerspruch zwischen Vernunft und Offenbarung gibt oder zumindest geben kann, die gleichwohl als zuverlässige und unersetzliche Quellen des Wissens über Mensch, Welt und Gott gelten.

      Die Frage, wie nun mit solchen rationalen Einwendungen gegen den deutlichen Sinn der Offenbarung verfahren werden sollte, führte schließlich zur Entwicklung des qānūn kullī (universelle Regel), die Ibn Taymiyya auf der ersten Seite des Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql in der Fassung des aschʿaritischen Gelehrten Fakhr ad-Dīn ar-Rāzī anführt.

      Der qānūn kullī besagt demzufolge im Kern: Wenn es zu einem Konflikt zwischen Offenbarung und Vernunft kommt, muss den Forderungen der Vernunft Vorrang eingeräumt und die Offenbarung mittels taʾwīl allegorisch reinterpretiert werden.

      Als Begründung wird angeführt: Die Vernunft begründet die Wahrheit der Offenbarung; wenn daher zugelassen würde, dass die Offenbarung im Falle eines Konflikts von Vernunft und Offenbarung die Vernunft aufhebt, käme dies einer Bezweifelung und Infragestellung der Vernunft insgesamt gleich; und damit würde die rationale Grundlage, auf der das Wissen von der Echtheit und Wahrheit der Offenbarung basiert, untergraben.

      Ibn Taymiyya setzt sich im Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql die Widerlegung des qānūn kullī ausdrücklich zur vorrangigen Aufgabe. Dafür entwickelt er in einem ersten Schritt etwa vierzig verschiedene Argumente gegen die logische Kohärenz dieser Regel und die Voraussetzungen und Annahmen, auf denen sie basiert. In einem zweiten Schritt nimmt er sich dann praktisch alle Fälle eines vermeintlichen Konflikts zwischen Vernunft und Offenbarung vor, die von Philosophen und Mutakallimun (Gelehrten des kalām) im islamischen Denken vorgebracht wurden. In diesem Zusammenhang entwickelt er seine charakteristische Philosophie und Methodologie, mittels derer er den so lange schwärenden Konflikt endgültig aufzulösen trachtet.

      Seine Kritik richtet sich dabei auf den von Philosophen und Mutakallimun verwandten Begriff der Vernunft selbst, um damit allen Argumenten die rationale Grundlage zu entziehen, die dem widersprechen, was die Offenbarung beispielsweise über die besonderen Attribute und Handlungen Gottes oder die zeitliche Entstehung der Welt mitteilt. Die Grundlage dieser Kritik wiederum bildet ein Begriff der Vernunft, der von allen Verfehlungen und zweifelhaften Voraussetzungen befreit ist: die reine, klare, eingeborene, unverfälschte Vernunft, die Ibn Taymiyya als ʿaql sarīh bezeichnet.

      Mit der Frage, worin genau diese reine und klare Vernunft besteht und in welchem Verhältnis sie zur Offenbarung steht, befasst Ibn Taymiyya sich im abschließenden Teil des Darʾ. Um der überbordenden Allegorisierung, die sich aus der rationalistischen Auslegung der Offenbarung durch die Philosophen ergibt, zu wehren, entfaltet er eine Hermeneutik, die sich auf den natürlichen kontextuellen Gebrauch der Sprache stützt. Sodann wendet er sich einer Rekonstruktion der Vernunft selbst zu, indem er die vielfältigen Weisen untersucht, in der das menschliche Denken zu Wissen gelangt. Diese reformierte Epistemologie wiederum stellt die von den Philosophen vorausgesetzte Ontologie grundsätzlich in Frage, insbesondere deren realistische Theorie der Universalien, die zu einer chronischen Konfusion zwischen dem, was logisch im Geist existiert, und dem, was ontologisch in der äußeren Wirklichkeit existiert, geführt hat. Durch eine deutliche Unterscheidung zwischen mentaler und äußerer Existenz ersetzt Ibn Taymiyya die von den Philosophen vorgenommene Intellektualisierung der Wirklichkeit durch eine strikt auf Erfahrung basierende Epistemologie, welche die gültigen Quellen des Wissens über die Wirklichkeit auf Wahrnehmung (hiss) und »Bericht« (khabar) beschränkt. Gleichwohl sind die abstrakten und universalisierenden Funktionen des Geistes wie auch die darin eingebetteten apriorischen logischen Prinzipien von entscheidender Bedeutung für das Verstehen der verborgenen Wirklichkeiten, von denen die Offenbarung berichtet, insbesondere die Attribute Gottes.

      El-Tobgui beschließt diesen Abschnitt folgendermaßen:

      Ibn Taymiyyas gesamtes epistemisches System stützt sich auf einen erweiterten Begriff der fitra

Скачать книгу